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Erlebnis Schlüssel

| 30. Oktober 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 167, Fazitportrait

Foto: Heimo Binder

In Graz steht seit Jahrzehnten das weltweit größte Spezialmuseum für Schlüssel, Schlösser, Kästchen und Eisenkunstguss. Seine erfolgreiche Tätigkeit als Unternehmer erlaubt es dem mittlerweile zweiundachtzigjährigen Bergsteiger Hanns Schell den durchschnittlich 5.000 Besuchern pro Jahr eine faszinierende, längst vergangene Welt voller wertvoller Kulturgüter zu präsentieren. Über mehr Unterstützung seitens der Politik würde er sich freuen.

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Graz ist eine geheimnisvolle Stadt. Einerseits geheimnisumwoben, weil abseits der transnationalen Verkehrsachsen gelegen und Fremden daher eher vom Hörensagen bekannt. Sie hören vom Alpenostrand, missverständlich, je nachdem, wie man ihn ausspricht, vom mediterranen Klima mit pannonischen Einflüssen aus der Tiefebene im Osten, von altitalienischer Architektur in der größten zusammenhängenden Altstadt Südostmitteleuropas oder von einer heimlichen Literaturhauptstadt. Alles irgendwie nicht ganz unwahr: Es gibt eine nahe Copacabana, manchmal gute Luft, einige wenige Renaissancebauten und das in einer Altstadt, die fast an jene von Brno heranreicht, einen vergessenen Wolfi Bauer, aber doch einen nobelpreisgekrönten Peter Handke. Andererseits gibt es auch für Einheimische ständig etwas Neues, teils Geheimes zu entdecken. Manches ist unzugänglich, wie die Blut- und die Goldgasse, manches kaum zugänglich, wie das Cerrini-Schlössl und manches aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt, wie das schönste Museum der Stadt, die Schell Collection, das unbekannte Schlüsselmuseum.

Mann mit Passion
Aber was soll an einem Schlüssel oder einem Schloss so interessant sein? »Man hat jeden Tag mindestens dreißigmal in irgendeiner Form mit Aufsperren und Versperren zu tun«, sagt Hanns Schell, der Gründer des Museums. So eine Antwort war zu erwarten, und das aus zwei Gründen. Zunächst, die Antwort ist selbstverständlich gut, man denke an die Schlüssel für Wohnung oder Haus, für Auto und Fahrrad, das macht schon mindestens zehnmal Sperren pro Tag. Nein, die Frage war schlecht. Es ist zwar eine offene Frage – im Gegensatz zur geschlossenen, wie ich in der Journalistenausbildung lehren würde, hätte ich die Möglichkeit dazu – aber sie ist nicht beantwortbar. Dass sich ein Briefmarkensammler für Briefmarken interessiert, ist genauso vermutbar, wie jede einzelne seiner Begründungen subjektiv ist. Alles, was im Auge des Betrachters liegt, ist eben nicht immer allgemeingültig. Der zweite Grund: Der 82jährige Hanns Schell ist ein Mann mit Passion. Das schließt Objektivität von vornherein aus. Sonst wäre er nicht bis in seine Fünfziger auf die höchsten Berge dieses Planeten gestiegen. Der Name Schell ist Legion in der Welt der Bergsteiger und wird in einem Zug mit einem Reinhold Messner oder einem Peter Habeler genannt. Zwar war er dabei, aber nicht am Mount Everest oben, als die beiden 1978 ohne künstlichen Sauerstoff Geschichte schrieben. Hanns Schell war damals in der zweiten Gruppe, deren Gipfelangriff abgeblasen wurde. Aber neben einigen Erstbesteigungen von Siebentausendern hat er auch von den 14 Achttausendern vier in seiner Sammlung: Hidden Peak, Nanga Parbat, Gasherbrum II, Shisha Pangma. Den Nanga Parbat bestieg er über eine neue Route, die seitdem »Schell-Route« heißt und den Grazer quasi unsterblich gemacht hat. Derartiges hätte er sich auch für seine, um ein Jahr jüngere Frau Lieselotte »Lilo« gewünscht, mit der er seit mehr als 58 Jahren verheiratet ist und sechs Kinder hat, die ihrerseits bereits für 14 Enkel und sechs Urenkel gesorgt haben. Doch Lilo möge das Rampenlicht nicht, daher solle ich folgende Episode nicht schreiben. Da Lilo aber genauso wie Hanns einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat, kann diesem Wunsch nicht entsprochen werden. Der erwähnte Hidden Peak, der auch Gasherbrum I heißt, war damals, 1975, eine Drittbesteigung, nur einen Tag nach der Zweitbesteigung durch Messner und Habeler. Für Fans: Diese wiederum erfolgte 17 Jahre nach der Erstbesteigung durch Kauffman und Schoening. Auch Lilo war bei der Drittbesteigung dabei und gelangte bis Lager III. Kurz davor aber waren Hanns und Lilo mit Freunden auf einem Siebentausender am Gipfel, laut Wikipedia eine Erstbesteigung (Urdok Kangri I, 7250 m). Für die Bücherfreunde unter uns: Das ist so ähnlich wie eine Erstausgabe, nur besser, weil tatsächlich einmalig. Hanns Schell: »Wäre sie mit auf den Gipfel vom Gasherbrum I, dann wäre sie die siebente oder achte Frau weltweit und die erste Österreicherin überhaupt auf einem Achttausender gewesen.« Und das hätte er ihr besonders gegönnt.

Foto: Heimo Binder

Eisenwaren Odörfer
Die bessere Frage lautet also, woher denn die Passion des Bergsteigers für Schlüssel und Schlösser käme. Die wurzelt in seinem Beruf als Gesellschafter bei Odörfer, Segro und Filli-Stahl, weshalb Wikipedia ihn auch als Industriellen bezeichnet. Die Firma Odörfer war bereits fast hundert Jahre alt, als der Großvater des Bergsteigers, Hanns Schell I., ein Siebenbürger Sachse aus Hermannstadt, heute Sibiu/Rumänien, um das Jahr 1900 mit zwei Kompagnons in das Unternehmen einstieg. Damals war der Betrieb in der Griesgasse, wo der Detailhandel bis in die 1980er Jahre verblieb, während der Großhandel bereits 1967 in die Herrgottwiesgasse zog. Nach der Aufspaltung von Odörfer in ein Sanitär- und ein Eisenwarenunternehmen verblieb letzteres bei der Schell-Familie. Nach dem Tod von Vater Hans II. übernahm Hanns III. im Jahr 1969 die Firmenanteile mit 31 Jahren. Da hatte er schon einige Siebentausender hinter sich, die Achttausender sollten erst später folgen. Die Sammelleidenschaft war längst geweckt, entfacht durch den Werbeleiter des Eisenwarenfachgeschäfts Odörfer, der für die Dekoration der Auslagen in der Griesgasse alte Schlüssel und Schlösser ankaufte. Zur Vermeidung der damals enormen Flugspesen fuhr Schell 1965 mit dem Auto auf eine Expedition nach Pakistan und in den Iran. In Isfahan und Teheran erstand er auf den Basaren seine ersten Schlösser, knüpfte Kontakte zu Händlern und Sammlern und graste in Graz die Trödel- und Fetzenmärkte ab. Die Sammelleidenschaft weitete sich in der Folge auch auf Kästchen, Kassetten und Eisenkunstguss aus. 1973 öffnete das Schloss- und Schlüsselmuseum in der Griesgasse, 1985 die »Collection Schell« in der Triesterstraße, 1992 schließlich folgte der Neubau am heutigen Standort in der Wienerstraße 10.

Unbeschreiblich und präzise
Heute präsentieren sich dort unglaubliche 14.000 Exponate auf großzügigen 2.500 Quadratmetern, verteilt über drei Stockwerke. Darunter 7.500 filigrane bis pompöse Schlüssel, komplizierte Schlösser, aufwendig gearbeitete Kästchen und nicht minder wertvolle Kassetten, 3.000 eiserne Kostbarkeiten, gegossen und geschmiedet, sowie 3.000 ethnologische Objekte aus Afrika und Asien. Leider sind sie unbeschreiblich: Vorhängeschlösser in der Größe von einem Zentimeter oder solche, die so groß und schwer sind, dass man dafür einen Waffenschein braucht, so sie nicht überhaupt von selbst schießen (mit integriertem Schussapparat), allesamt mit einer Kunstfertigkeit und Präzision verarbeitet, dass man teilweise nicht mehr an Handarbeit, sondern den Einsatz von CNC-Fräsen glauben möchte. Welch Wunderwerke vor allem auch in technischer Hinsicht Kassetten und Truhen darstellen können, ist tatsächlich nur beschau- und nicht beschreibbar. »In der Nacht der Museen stürzen sich immer alle auf die Keuschheitsgürtel«, lacht Hanns Schell, dabei ist man sich heute sicher, dass das nur »Fakes« sind, allesamt Fälschungen aus der Zeit der Frührenaissance. Die angeschlossenen Texte und Erklärungen sind so überzeugend und erkenntniserweiternd, wie die wissenschaftliche Aufbereitung, die ein kleines vierköpfiges Team rund um die Museumsdirektorin und wissenschaftliche Leiterin Martina Pall leistet. Natürlich kann über Konzeptionen, Methodik, Präsentationstechnik bis hin zu Museumspädagogik etc. pp. unendlich diskutiert werden, so wie einem der postmoderne Bau aus den frühen 1990ern vielleicht mehr oder weniger gefallen mag. Für Gelassenheit und Leichtigkeit sollte hier allein schon der Gedanke sorgen, dass morgen nicht heute sein wird. »Leicht« ist dabei nicht im Sinne von anspruchslos zu verstehen – sondern im Sinne von Castiglione und seinem Buch über den Hofmann, der einst propagierte, dass man die größte Kunstfertigkeit nur dann zur Vollendung treibe, wenn dieser keine Anstrengung anhafte, sondern lässige Mühelosigkeit. Diesen Eindruck vermittelt der Gründer dieses Privatmuseums auf natürliche Weise, vielleicht liegt es auch daran, dass Hanns Schell als Bergsteiger besonders geerdet ist. Als solcher ist er stolz darauf, dass unter seiner Expeditionsleitung immer alle am gleichen Tag am Gipfel gestanden sind, »zumindest die, die wollten.«

Foto: Heimo Binder

Familientechnische Schell-Route
Familientechnisch gesehen ist Hanns Schell ebenfalls froh, auch hier eine eigene Schell-Route gegangen zu sein. Über den Weg, alle eine Erbverzichtserklärung unterschreiben zu lassen, konnte er eine Aufsplittung des Erbes vermeiden und es schon zu Lebzeiten an die sechs Kinder verteilen. – Die unterschiedlich damit umgingen. Das einzige operativ noch tätige Unternehmen ist Filli, als Eisenwarenhandel gekauft und heute als Spenglerbedarfshändler und -erzeuger sowie als Servicebetrieb für Lasertechnik im Geschäft. Von Odörfer und Segro blieben immerhin die Immobilien im In- und Ausland, die vorwiegend unter der Ägide von Sohn Christof, der Immobilienentwickler ist, verwaltet, das heißt vermietet werden. Er war es auch, der heuer im Februar den Eisenwaren-Odörfer nach 97 Jahren im Familienbesitz verkauft hat. Auch das Gelände rund um das Museumsgebäude hat seine außerfamiliäre Bestimmung gefunden. Bei einem Bauträger, der hier gerade 260 Wohnungen errichtet. Hanns Schells Mission ist nach wie vor die Erhaltung von Kulturgut, deshalb kauft er auch schon einmal ein riesiges Portal aus Holz, »das schon ewig in Pakistan im Dreck gelegen ist.« Und erläutert dazu die Geschichte von Kafiren und Nuristen mit eigener Religion, von denen es in zwei oder drei Tälern gerade noch rund dreitausend gäbe. So wie er im Museum zu fast jedem Stück eine Geschichte zu erzählen weiß. Auch das Museum ist längst an Christof übergeben und seit dem Vorjahr ist der Betrieb überhaupt in den Händen des Betreibervereins »Verein zur Förderung der Schell Collection«. Dazu wurde den Privatmuseumsbetreibern geraten, in der Hoffnung, dass es dann vielleicht doch einmal eine Förderung gibt. Hanns Schell macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, wenn er sagt: »Wir sind mit Abstand das größte Spezialmuseum weltweit, werden aber in Graz und der Steiermark von der Politik zwar goutiert, aber nicht honoriert.«

Hans Schell Collection, Museum
8020 Graz, Wienerstrasse 10
Telefon +43 316 766177
schell-collection.com

Fazitportrait, Fazit 167 (November 2020) – Fotos: Heimo Binder

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