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Außenansicht (19)

| 24. Dezember 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Außenansicht, Fazit 169

Die europäischen Amerika-Kenner. Das »Electoral College«, die Wahlmänner und -frauen also, die den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika wählen, haben mit großer Mehrheit für den Kandidaten der Demokraten, Joe Biden, gestimmt. Damit ist Biden als nächster Präsident der USA offiziell bestätigt.

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Er hat bei der heurigen Wahl gleich viele Stimmen wie Trump im Jahr 2016 bekommen, also eine überzeugende Mehrheit. Es ist anzunehmen, dass trotz aller Widerstände und rhetorischer Spielereien von Trump den demokratischen Regeln der USA entsprechend die Regierungsgeschäfte ordnungsgemäß übergeben werden.

In den Medien ist über dieser weitgehend normal ablaufenden Abfolge der Ereignisse eine gewisse Enttäuschung zu lesen, zu hören, zu sehen. Mussten wir uns nicht wochen- und monatelang Sorgen machen, dass es zum Bürgerkrieg in Amerika kommen könnte, bewaffnete Milizen einzelne Städte besetzen, Trump sein Amt nicht freiwillig aufgeben und sich zum Diktator auf Lebenszeit ernennen würde? Die täglich warnenden Spekulationen über das, was kommen könnte, was möglich wäre, was offensichtlich geschehen werde; sie schrieben sich die Finger wund, Kommentatoren und Korrespondenten berichteten nervös, hektisch, bis sie heiser wurden. Sie warnten uns auf TV, Radio und in den Print-Medien praktisch täglich und inszenierten sich in geschlossenen Denkprozessen, indem sie eine Annahme präsentierten, die sich jenseits der Realität bewegte, und diese dann als Grundlage für mögliche Folgen benutzten.

Manche versuchten es zum Beispiel so: Es bestehe die Möglichkeit, dass Trump die Wahl von Biden nicht anerkenne und sich weigere, die Macht abzugeben, dann werde das und jenes passieren und noch vieles mehr wäre denkbar. Aus diesen Denksportübungen, die man sonst nur benutzt, um in der Arztpraxis den Fortschritt einer Demenz zu untersuchen, entwickelten die verantwortlichen Journalisten – und mit ihnen viele Politiker – reale Situationen und präsentierten sie voller Überzeugung, sodass man sicher sein konnte, dass das alles nicht nur vermutet, sondern auch passieren werde.

In einer Nachrichtensendung eines deutschen Fernsehsenders befragte der im Studio in Deutschland sitzende Moderator den Korrespondenten, der direkt von den Straßen in Washington berichtete, wie denn die Stimmung sei. Der Korrespondent beantwortete die Frage mit einer Beschreibung der Situation: Es sei ruhig hier, die Menschen demonstrieren zwar, aber von Gewalt und Unruhe sei nichts zu sehen. Das genügte dem Mann im Studio nicht und er fragte weiter, ob denn nicht Bewaffnete unter den friedlichen Demonstranten seien, und der Reporter verneinte und wiederholte, dass alles friedlich sei und der Moderator ließ nicht locker und fragte wieder und wieder, ob es nicht gefährlich sei in den Straßen, eine bedrohliche Stimmung sich ausbreite, und der Reporter verneinte wieder und wieder, bis der Kollege im Studio endlich aufgab. Nachdem er die Leitung nach Washington unterbrochen hatte, fühlte sich der Journalist in Deutschland verpflichtet, über andere Städte zu berichten, wo es zu Unruhen kommen könnte. Die meisten Korrespondentenberichte entsprachen jedoch den Erwartungen. Trump-Anhänger sah man meist mit Knüppel und Pistolen, oft übergewichtig mit T-Shirt und roten Baseballkappen, brüllend, schreiend, als wurde dort der Selbstbefreiungsversuch einer Irrenanstalt im Süden von Texas gefilmt. Reportagen wiederholten sich mit Beschreibungen von dumpfen, aggressiven und halbdebilen Amerikanern, die versuchten, den Mangel an Schuldbildung mit Wut, Hass und Verzweiflung auszugleichen. »Trump-Land« wurde zu einem Synonym für rückständige, aggressive, rassistische und auch frauenfeindliche Amerikaner, die im zivilisierten Europa nicht vorstellbar wären.

Nach der Wahl verstummten die Amerika-Kenner. Vielleicht hatte sie keine Erklärung, warum Trump, trotz Verlust der Wahl, zehn Millionen Stimmen mehr bekam als 2016. Vielleicht konnten sie nicht erklären, warum ein Drittel der weißen Amerikaner und Latinos mit Universitätsabschluss und 43 Prozent der Frauen Trump wählten. Man mag zu Trump stehen, wie man möchte, ihn verteidigen, ihn verdammen, ihn loben oder kritisieren. Das amerikanische Volk hat jedoch diese Form der plakativen, durch Vorurteile überladene Denunzierung durch die Medien und Politiker Europas nicht verdient.

Außenansicht #19, Fazit 169 (Jänner 2021)

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