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Europa braucht jetzt Vertrauen in die eigenen Stärken

| 13. April 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 171

Foto: Marc LahousseEin Essay von Lukas Mandl. Der 3. Mai ist der Internationale Tag der Pressefreiheit. Unmittelbar davor erscheint im April das »Österreichische Jahrbuch für Politik«, für das Lukas Mandl diesen Beitrag verfasst hat, der in verkürzter Fassung erschienen ist.

::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK

Mag. Lukas Mandl, geboren 1979 in Wien, ist seit 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments, wo er stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses ist und den Ausschüssen für innere Sicherheit, Arbeitsmarkt und Außenpolitik angehört. Zuvor war er von 2008 bis 2017 Abgeordneter zum niederösterreichischen Landtag. lukasmandl.eu.

Unter dem oft schwer fassbaren Begriff der »Desinformation«, die ich im Sonderausschuss des Europäischen Parlaments behandle, eröffnet sich ein breites Themenfeld, das einer genaueren Betrachtung bedarf. Dieser Ausschuss, dem auch der Delegationsleiter der SPÖ im Europäischen Parlament, Andreas Schieder angehört, wurde nun um ein weiteres Jahr bis März 2022 verlängert. Was auch bedeutet: Die Arbeit ist noch lange nicht getan. Sie wird im Gegenzug mehr, weil sich auch die Bedrohungen, die damit einher gehen, wachsen. Es sind Gefahren, die wir oft nur an der Oberfläche verschwommen wahrnehmen, was uns aber nicht hindern darf, an unserer Verteidigung zu arbeiten. Denn die Erscheinungsformen ändern sich ständig und auf unserer Agenda für verantwortungsvolle Politik steht neben der Verteidigung gegen »hybride Bedrohungen« auch das Verständnis für deren Ursachen. Die Angreifenden haben ein Ziel: Europa zu spalten. Darum ist es an der Zeit, unsere Werte, Ideale und Haltungen zwar stets kritisch zu reflektieren, aber sie auch in Form und Inhalt zu Kraftquellen in der Behauptung unseres Lebensmodells zu machen. Vertrauen – Selbstvertrauen! – in den »European Way Of Life« und dessen Resilienz ist angesagt.

Dabei ist der Weg der Kooperation immer jenem der Konfrontation vorzuziehen: Durch gelebtes Miteinander kann Europa seine Schwächen im Zaum halten und seine Stärken ausschöpfen. Mit der Europäischen Union gibt es Strukturen, die das Miteinander basierend auf Werten wie Menschenwürde, Freiheitsrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stützen. Diese Kraft gehört gelenkt – mit Behutsamkeit und Entschiedenheit. Denn es gibt viele, die diesen Ansatz nicht teilen, man setzt bewusst auf Konfrontation. Der kooperative Ansatz, von dem wir überzeugt sind, hat bei Weitem nicht so viel Anhängerschaft, dass Menschen in Gegenwart und Zukunft in Frieden leben könnten – das zeigt auch die Pandemie-Situation. Unsere Überzeugung ist aber deswegen nicht falsch, noch ist der Weg der Konfrontation ein richtiger. Im Inneren unseres Kontinents haben wir gelernt, dass Kooperation zu Wohlstand und Zukunftschancen führt. Das gilt auch für unser Verhalten nach außen, denn Europa öffnet sich allen, die unser Lebensmodell respektieren. Gleichzeitig gilt: Europa wappnet sich gegen Angriffe: Für die Sicherheit kommender Generationen und im Sinne der zivilisatorischen Werte. Die Angriffe dabei sind real und finden täglich statt, sind sie doch für Lenker einiger Teile der Welt gelebte Praxis. Das mag, zum Schaden von anderen einen kurzfristigen Nutzen für wenige haben; Ursachen lassen sich in Systemkonkurrenz, der Ablehnung der Zivilisation westlicher Prägung oder durch isolierte Zielsetzungen gegen Freiheit, Selbstbestimmung und Gemeinwohl finden.

Trachtet man danach, den Binnenmarkt, das Miteinander von Staatsgrenzen und Sprachräumen zu spalten, hat das oft durch gegenseitiges Misstrauen seinen Ausgangspunkt. Wenn wir mit diesem anderen begegnen, eine »hidden agenda« orten oder aus Unkenntnis Argwohn wachsen lassen und wir uns in Social-Media-Kanälen verlieren, statt andere persönlich um Hilfe zu bitten oder Hilfe anzubieten. Dann kann es dazu führen, dass wir den Wert der Wissenschaft nicht schätzen oder demokratische Legitimation nicht anerkennen und dass wir journalistisch recherchierte Medienhalte kaum von der Flut an Allerlei, von Katzenvideos bis zur Hassrede, unterscheiden. So werden Gräben vertieft und wir schaffen der Desinformation Einlass in viele unserer Gesellschaftsbereiche. Dies lässt sich durch negative Emotionen noch weiter eskalieren, wie etwa beim Sturm auf das US-Kapitol im vergangenen Jahr. Meinungsverschiedenheiten zeichnen eine Gesellschaft in Freiheit und Prosperität aus, in spalterischer Absicht können diese Verschiedenheiten durch Desinformation aber gegen uns gewendet werden.

Dabei gilt: Je tiefer die Gräben und je kleiner die Splitter, desto effektiver sind die Angriffe. Was wir von den Attacken wahrnehmen, sind eher die Symptome, nicht die Zusammenhänge und nicht die Urheber. Damit einher geht ein Vertrauensverlust, wenn Institutionen und Medien angezweifelt werden. Es geht hier nicht um den wertvollen Zweifel, der die Wissenschaft antreibt und zu kritischem Denken befähigt. Sondern um zersetzenden Zweifel an allem und jedem, der den Wert von Journalismus auszuradieren trachtet oder die Legitimation durch demokratische Prozesse in Abrede stellt. Es ist der Zweifel, der alles herabwürdigt und unfähig ist, Alternativen anzubieten.

Dazu sehen wir uns Attacken wie durch Cyberangriffe ausgesetzt, sofern sie überhaupt bekannt werden. Wie auf das heimische Außenministerium, der Anfang 2020 bekannt wurde; jener auf US-Regierungsbehörden, über den seit Ende 2020 berichtet wird; Wir registrierten Anfang 2021 ein Beinahe-Blackout in weiten Teilen Europas. Obwohl Notmaßahmen sofort eingeleitet und nicht behindert wurden, dauerte es 63 Minuten, das Stromnetz zu stabilisieren. Noch sind wir nicht ausreichend vorbereitet auf die Auswirkungen, die wenige Stunden oder gar Tage an Stromausfall zeitigen würden. »Hybride Kriegsführung« nennen das Experten, wenn ein kaum zu überblickender Mix an Maßnahmen gesetzt wird, um ein Angriffsziel zu schwächen. Wir müssen Zusammenhänge neu denken: Kräfte außerhalb Europas beobachten unsere Reaktionen genau – jene in den europäischen Staatskanzleien, auf EU-Ebene, in Medien, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Sie haben ihre Schlüsse gezogen; für den Fall, dass das Abschalten des Stroms für Teile Europas einmal ein Mittel der Wahl werden sollte. Die Sabotage erfolgt dann nicht physisch, sondern durch Cyberangriffe.

Was beinahe im Verborgenen geschieht und sich kaum erfassen lässt, sind politische, mediale, militärische, nachrichtendienstliche und ideologische Systeme, die zu den Phänomenen, die wir isoliert wahrnehmen, beitragen oder sie auslösen. Das Risikoszenario wird verschärft durch europäische Naivität und eine Verlagerung unserer Aufmerksamkeit zu unseriösen Informationsquellen. Zur (pseudo)medialen Dimension gehören auch TV-Anstalten, die in mehreren Sprachen Inhalte in die Welt ausstrahlen, wie Nachrichten aussehen, aber Desinformation sind und sich über Social-Media-Kanäle weiter erstrecken. Nachrichtendienstlich wird unter anderem über Trollfabriken, Bots und Cyberangriffe agiert, was wiederum Radikalisierung vorantreiben kann.

Die zentralen Handlungsfelder, denen sich der Sonderausschuss gegen Desinformation widmet und teils noch stärker widmen muss, die auf der Tagesordnung aller politischen Ebenen stehen sollten, sind Journalismus und Veröffentlichungen; Bildung, inklusive Herzensbildung; Politik und Wirtschaft. Die Art der Bedrohung verlangt Aufmerksamkeit für Veränderungen, Flexibilität, Konsequenz sowie die Bereitschaft, sich neben Bewusstseinsbildung auch zu konkreten Maßnahmen durchzuringen. Wer veröffentlicht, trägt Verantwortung für die Inhalte: Das ist spätestens seit der Aufklärung fester Bestandteil unserer Rechtstradition. Pro forma mag dieser Grundsatz noch gelten. De facto haben wir ihn im Social-Media-Zeitalter verlassen. Die Entwicklung war beinahe unmerklich: Ständig werden Inhalte generiert und geteilt, deren Urheber und Verbreiter sich keiner gesellschaftlichen oder rechtliche Verantwortung bewusst sind.

Was auch immer wir tun: Unser zukünftiges Grundverständnis und die Rechtsordnungen werden vermeiden müssen, dass Menschen die sprichwörtliche »Schere in den Kopf« gepflanzt- und Freiheit insofern eingeschränkt wird, als jemand Sorge haben müsste, sich des Rechts der freien Rede zu bedienen. Damit würden wir nur das Werk der Angreifenden vollenden.

Vielmehr braucht es, was zum Kernbestand von qualitativ hochwertigem Journalismus gehört: Eine einfach zu erkennende Unterscheidung zwischen Information und Meinung, zwischen Faktum und Argument, zwischen Bericht und Behauptung. Ebenso wichtig wird die Unterscheidung zwischen News und Fake News, zwischen Information und Desinformation. Es ist essenziell für die Erhaltung unserer Gesellschaftsform, echten Journalismus am Leben zu erhalten. Der Status der Debatten im Sonderausschuss läuft darauf hinaus, dass die öffentliche Hand Journalismus stärker finanziell fördern muss.

Ebenso wichtig wie der Blick auf Produktion und Publikation ist jener auf Rezeption und Wirkungsweise von Inhalten. Deshalb ist das Handlungsfeld der Bildung so wichtig. Diese beginnt informell im Elternhaus, zieht sich durch das gesamte Leben und erstreckt sich über Familien, Religionen, zivilgesellschaftliche Gemeinschaften und Organisationen oder Kultur und Sport. Für Herzensbildung und auch Gemeinschaftssinn brauchen wir Einbettung in solche kleineren und größeren Beziehungsgeflechte. Deren Entfaltung in Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten, ist und bleibt eine zentrale politische Aufgabe. Wir werden nicht umhinkommen, die Probleme nicht nur in politischer Hinsicht an ihren Wurzeln zu bekämpfen; wir müssen das auch in ethischer und moralischer Hinsicht tun. Hassreden, Herabwürdigung anderer Menschen, Polemik gegen Demokratie oder Rechtsstaat sollten besser als destruktiv erkannt werden und weniger in unsere Herzen dringen können. Schulen und andere Bildungseinrichtungen gehören dabei unterstützt, diese Medienkompetenz zu fördern: Für das Grundverständnis, dass Journalismus auf Recherche beruht und einen Prozess durchläuft. Die Arbeit im Sonderausschuss läuft etwa auf eine Unterstützung von Lehrenden hinaus, damit die persönliche Vermittlung dessen, was wir jetzt und in Zukunft unter Medienkompetenz verstehen, gelingen kann.

In der Politik ist der Umgang mit den Bürgern, für die wir politische Dienstleistungen erbringen dürfen, sowie die Vorsorge im Umgang mit Expertise, Inhalten, und Entscheidungsprozessen elementar. Für die Umsetzung dieser Haltung, manchmal als »Bürgernähe« auf den Begriff gebracht, sind Onlineinstrumente hilfreich, aber keinesfalls hinreichend. Je mehr unsere Kommunikation von Technologie geprägt ist, desto wertvoller werden persönlicher Kontakt und Beziehungen. Wenn Parlamentarier demokratisch und rechtsstaatlich legitimiert sind, sind ihre Präsenz und Verfügbarkeit Vorteile im Kampf gegen konstruierte Desinformation. Das physische Miteinander kann nicht ersetzt werden. Sonst drohen Gefahren wie jene der »Deep Fakes«, Generatoren von Bildern und Videos, die vermitteln, eine real existierende Person hätte gesprochen oder auf andere Weise agiert, obwohl das nie stattgefunden hat.

Ein zentrales politisches Handlungsfeld ist weiters der Schutz von kritischer Infrastruktur wie Krankenhäusern, Energienetzen, Eisenbahnstrecken oder Internetversorgung. Es braucht eine europaweite Definition dessen, welche Einrichtungen schützenswert sind, da die Systeme voneinander abhängen. Bedrohungen wie durch Leaks durch Hacking vor Wahlgängen sind allgegenwärtig. Zwei wichtige legislative Akte, denen sich das Europäische Parlament widmen muss, sind somit die Überarbeitung der Richtlinie zu Netz- und Informationssystemen (2016) sowie die Überarbeitung der Richtlinie über die Ermittlung und Ausweisung kritischer Infrastrukturen (2008). Was an Maßnahmen im Sonderausschuss weiters diskutiert wird, sind Sanktionen gegen Beteiligte an Desinformationskampagnen, inklusive »Naming & Shaming« sowie klare Akkreditierungsregeln für Medienvertreter.

Mit den Angriffen auf der Basis des konfrontativen Ansatzes von Kräften außerhalb Europas sind zwei weitere Gefahren verbunden: Eine ist jene, die mit Strategien und Maßnahmen für mehr Sicherheit einher geht, die sich in dem Benjamin Franklin zugeschriebene Zitat ausdrückt: »Wer bereit ist, Freiheit zu opfern, um Sicherheit zu gewinnen, (…) wird am Ende beides verlieren.« Wir dürfen keinesfalls dem Trugschluss verfallen, uns gleichsam in »ein wenig Autoritarismus« oder in eine Orwell’sche Welt fallen lassen zu müssen, um Sicherheit zu erwerben. Damit würden wir selbst den Schritt zur Abkehr vom »European Way of Life« setzen.
Ebenso paradox wäre es, würden wir uns auf das »Spielfeld« der konfrontativen Aktionen, der Desinformation, begeben. Menschliche Emotionen zu missbrauchen würde den Werten der Menschenwürde und der Freiheitsrechte, die wir hochhalten und verteidigen, krass widersprechen. Vermeiden wir Zynismus und Paranoia! Es ist wichtig, sich derlei Gefahren vor Augen zu führen. Verlassen wir uns vielmehr auf unsere Stärken: Vertrauen wir in die Kraft, die in der Seele des heutigen Europas steckt und auf die Werte der Aufklärung. Die Weltwirtschaft wird sich nach der Pandemie nur langsam erholen. Auch in dieser Hinsicht ist jetzt die Zeit der Kooperation. Treten wir selbstbewusst für unsere Werte und universale Zielsetzungen ein – für liberale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit; Gleichberechtigung von Frauen und Männern; Kinderrechte; menschengerechte Arbeits-, Bildungs- Sozial- und Qualitätsstandards; und dafür, dem Klimawandel angemessen zu begegnen.

Vertiefen und erweitern wir Miteinander und Freiheit, stärken wir Europa nach außen. Dann können auch wir der nächsten Generation ein lebenswertes Europa in einer hoffentlich immer lebenswerteren Welt hinterlassen, wie es Generationen vor uns zuwege gebracht haben.

Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Ende April erscheinenden »Österreichischen Jahrbuch für Politik« . Herausgegeben von Andreas Khol, Stefan Karner, Wolfgang Sobotka, Bettina Rausch, Günther Ofner und Dietmar Halper. Zu beziehen über die Politische Akademie. politische-akademie.at/jahrbuch

Essay, Fazit 171 (April 2021), Foto: Marc Lahousse

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