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Spaltung oder Zusammenleben?

| 29. Dezember 2021 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 179, Gastkommentar

Foto: Martin LahousseIhr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr es schmerzt, wenn Leute die COVID-19-Impfung mit der Schoa gleichsetzten« – Fred Kupermann ist 22 Jahre alt und studiert in Köln. Diesen Satz hat er auf der Kurznachrichtenplattform Twitter gepostet. Und die Begründung, warum es wehtut, kam gleich hintendrauf: »Fast meine gesamte Familie ist in KZs umgekommen und ihr heult wegen einer Impfung herum!«

::: Ein Gastkommentar von Philipp Jauernik
::: Hier im Printlayout lesen.

Das sitzt. Im aufgeheizten Klima dieser Tage scheint eine Seite die andere in Sachen Radikalität der Sprache übertrumpfen zu wollen. Dabei ist ganz offensichtlich über weite Strecken das rechte Maß aus den Augen verloren worden. Wenn dann Augenzeugen berichten können, wie am Rande der Demonstrationen der Wiener Innenstadt in Richtung jüdischer Mitbürger Ausrufe wie »Wo sind die Gaskammern, wenn man sie braucht« getätigt werden, ist im Österreich des Jahres 2021 die Frage angebracht, ob das alles nur ein Problem des Anstands, der Sitte und der Moral ist – oder ob wir ein wahrhaft tieferliegendes Problem haben.

Hier muss man nicht einmal fragen, ob aus der Geschichte gelernt wurde oder nicht. Das ist einfach zu beantworten: Wer mit Nazis marschiert, ist vielleicht selbst kein Nazi – jedenfalls aber eine Person, die bereitwillig mit Nazis marschiert. Dass das nicht besser sein kann, liegt auf der Hand. Auch die »Es war ja nicht alles schlecht«-Naivität zeigt, dass längst nicht alle längst nicht alles begriffen haben.

Aber wir müssen nicht einmal auf das dunkelste Kapitel unserer Geschichte blicken. Wir sehen überfüllte Intensivstationen. Wir sehen zurzeit 50 bis 80 Todesfälle – pro Tag! Und immer noch tun Menschen so, als gäbe es hier eine gefährliche Krankheit nicht, als würde ein »gesunder Lebenswandel« ausreichen, um gesund durchzukommen. Erschaudernd fühlt der Zuhörer sich an eugenisch geprägtes Gedankengut erinnert. Um das klarzustellen: Kritik an den Maßnahmen muss erlaubt sein. Wir leben in einem System, das politologisch betrachtet den Namen »liberale Demokratie« trägt. Hier sind eine wachsame Öffentlichkeit und kritische Medien vital für das Überleben unserer Freiheitsrechte. Und vor genau diesem Hintergrund ist ein stetiges und aufmerksames Hinterfragen staatlichen Handelns mehr als nur »gestattet«: Es ist Bürgerpflicht.

Dabei gilt es aber ebenso, das rechte Maß einzuhalten. Liberalität bedeutet nicht Egoismus. Nicht jeder ist Experte für »eh alles«. Die oft gehörte Forderung nach einer Erhöhung der Intensivkapazitäten klingt wie ein Hohn, wenn sie aus dem Mund jener Menschen kommt, die am nächsten Tag wieder über die drückende Abgabenlast (ja, Österreich ist ein Hochsteuerland) schimpfen. Wenn wir kritisieren, sollen wir das mit Augenmaß tun. Wir befinden uns am höchsten Wissensstand, den die Menschheit je hatte, es ist ein exponentielles Wachstum. Rund um das Jahr 2000 hieß es, alle fünf bis sieben Jahre verdopple sich das Wissen der Welt. 2010 reichten knapp vier Jahre, 2013 700 Tage, 2020 waren es rund 70 Tage. Wir sind so gut ausgerüstet wie noch nie zuvor und werden täglich besser.

Das bedeutet aber auch, dass es immer schwieriger wird, sich in allen Bereichen auszukennen. Wir sind darauf angewiesen, auf Experten zu vertrauen. Natürlich sollen wir auch deren Ratschläge hinterfragen – aber hinterfragen heißt nicht »der Wissenschaft grundsätzlich misstrauen«, wie es vielerorts derzeit den Anschein hat. Wissenschaftlern grundlegend zu unterstellen, im Auftrag sinistrer Mächte, böser Konzerne oder der eigenen Pfründe zu agieren, ist jedenfalls kein Beitrag zur Versachlichung der Debatte.

Die Spaltung der Gesellschaft wird durch Respektlosigkeit, durch ständiges Negieren der Realität, durch absichtliche und stumpfe Verletzung herbeigeführt. Angenehm sind die Maßnahmen für niemanden – aber einen Grundanstand sollten wir wahren. Wir sägen sonst an den Grundlagen unseres Zusammenlebens.

Philipp Jauernik studierte Geschichte und arbeitete unter anderem als Berater für Beziehungen zu Südosteuropa im Europäischen Parlament in Brüssel und Straßburg. Er ist Bundesvorsitzender der Paneuropajugend Österreich (gegründet 1922). Außerdem fungiert er als Chefredakteur des Magazins »Couleur«.

Gastkommentar, Fazit 179 (Jänner 2022), Foto: Martin Lahousse

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