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Handeln und helfen

| 6. April 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 181, Fazitgespräch

Foto: Erwin Scheriau

Doris Kampus, steirische Landesrätin für Soziales, Arbeit und Integration über die Krise in der Ukraine, Flüchtlinge und die sozialen Folgen der Pandemie.

Das Gespräch führten Peter K. Wagner und Johannes Tandl.
Fotos von Erwin Scheriau.

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Die Stimmung ist hektischer dieser Tage. Der Terminkalender von Landesrätin Doris Kampus ist noch voller als ohnehin schon. Denn die Ressorts, die in ihrem Büro vereint sind, werden gerade besonders gebraucht: Ob Soziales, Arbeit oder Integration – alle drei Teilbereiche sind von Bedeutung, wenn Menschen aus einem Krisengebiet flüchten und in der Steiermark Schutz suchen.

Etwa 30 Minuten Zeit wurden uns innerhalb von 24 Stunden dennoch kurzfristig versprochen, es werden dankenswerterweise 40 werden, auch wenn wir das Gefühl haben, wir könnten noch viel länger sprechen. Der Krieg in der Ukraine hat die Steiermark nämlich an diesem Donnerstag Mitte März endgültig erfasst. Das Erstaufnahmezentrum des Landes hat vor einem Tag geöffnet. »Es tut mir leid, dass ich nur so kurz Zeit habe«, entschuldigt sich Kampus gleich bei der Begrüßung. Sie lächelt freundlich, aber will auf den Fotos nicht strahlen wie sonst. »Es sind nicht die richtigen Zeiten dafür«, sagt sie mit sorgenvollem Blick.

Flüchtlinge begleiten Kampus seit ihrem Beginn als Landesrätin. Als sie 2015 die Ressorts übernahm, spitzte sich gerade die Krise in Syrien zu, deren Folgen bis Österreich zu spüren waren.

***

Frau Landesrätin, das Erstaufnahmezentrum in der Messe hat gestern geöffnet, viele Menschen aus der Ukraine finden sich dort ein. Was kommt auf die Steiermark zu?
Wir sind inmitten eines furchtbaren Krieges, dessen Auswirkungen ganz Europa treffen und zu einer humanitären Krise führen. Österreich und die Steiermark sind bereit, alles zu tun, um in dieser Krise ihren Beitrag zu leisten. Wir haben unterschiedliche Maßnahmen gesetzt – eine davon ist das Ankunftszentrum in der Messehalle der Stadt Graz. Das Zentrum hat unterschiedliche Funktionen. Die erste Funktion ist, Menschen zu registrieren. Wir haben aktuell ganz andere Rahmenbedingungen als im Jahr 2015.

Warum?
Dank eines Beschluss der EU haben wir die Möglichkeit, die Menschen auf Basis einer Vertriebenenverordnung zu unterstützen. Die Menschen haben absolute Reisefreiheit im Schengenraum, können sofort arbeiten und werden in die Grundversorgung aufgenommen. Es sind außerdem überwiegend Frauen und Kinder.

Was passiert in der Messe?
Die Polizei registriert, es sind aber auch mit Mitarbeiter der Sozialabteilung vor Ort. Auch die Caritas ist im Auftrag des Landes dort, um die Menschen akut zu begleiten und über die nächsten Schritte zu informieren. Das Rote Kreuz steht für medizinische und therapeutische Versorgung zur Verfügung, falls diese benötigt wird. Im ersten Stock sind außerdem Notunterkünfte eingerichtet. Es ist nicht geplant, dass die Menschen dort länger bleiben, aber wenn in der Nacht ein Bus mit vielen kleinen Kindern ankommt, können die Mamas und Kinder dort verpflegt werden und übernachten. Von der Messe aus geht es dann in Landesquartiere oder in eine der vielen Privatunterkünfte. Schon viele Steirer haben sich dazu bereit erklärt, Plätze anzubieten.

Werden wir wie 2015 weitgehend ohne Großquartiere auskommen?
Ich verspreche nicht, was ich nicht halten kann. Aber Stand jetzt sage ich: Ja. Sollte sich die Entwicklung schlagartig ändern, kann ich Großquartiere aber nicht ausschließen.

Die Vertriebenenverordnung besagt, dass die Menschen auf den Arbeitsmarkt dürfen, aber nicht in die Sozialhilfe. Wann haben Sie Zugang zum Sozialstaat?
Sobald die Menschen einen Job haben, fallen sie natürlich aus der Grundversorgung und erhalten ihre normalen Bezüge am Arbeitsmarkt. Diese Verordnung gilt grundsätzlich für ein Jahr. Die Menschen möchten sich rasch selbst versorgen.

Foto: Erwin Scheriau

Und sie möchten wieder heimfahren.
Ja, alle wollen nach Hause zurück. Und man muss auch dazu sagen, dass wir zu einem durchaus respektablen Prozentsatz viele gut ausgebildete Menschen registrieren. Etwa Kindergartenpädagoginnen oder Pflegerinnen aus dem Gesundheitsbereich. Es wird nun auch darum gehen, dass Berufsausbildungen, die nicht in Österreich absolviert wurden, anerkannt werden. Bundesarbeitsminister Kocher hat bereits angekündigt, dass etwa die Anerkennung von Studienabschlüssen möglichst rasch passieren soll. Über diese Nostrifizierungen wären wir im Sinne der Menschen aus der Ukraine sehr dankbar. Die Dankbarkeit der Menschen ist groß und es ist spürbar, dass sie etwas zurückgeben wollen. Da viele Frauen mit Kindern kommen, wollen wir rasch dafür sorgen, dass Kindergarten- oder Schulplätze zur Verfügung stehen, damit die Frauen die Möglichkeit hätten, zumindest assistierend tätig zu sein.

Außerdem gibt es zahlreiche Unternehmen, die dringend nach Fachkräften suchen …
Das ist eine Hoffnung in dieser furchtbaren Situation, weil es sich herumspricht, dass es Menschen sind, die mit einer guten Ausbildung zu uns kommen. Auch wir haben da eine gewisse Hoffnung, aber bleiben dennoch realistisch. Es werden auch andere Herausforderungen auf uns zukommen und nicht umsonst arbeiten wir mit Traumapsychologen zusammen. Fest steht: Arbeit ist Identifikation und Teilhabe. Aber man darf nicht vergessen, dass die meisten Angekommenen sich ständig fragen, wie es ihren Verwandten und Freunden in der Heimat geht, die für ihr Land kämpfen wollen oder müssen.

Ist es nicht eine Form von Rassismus, wenn wir einen Unterschied zwischen den Flüchtlingen aus der Ukraine und jenen der Fluchtbewegungen 2015 machen?
Das könnte man vortrefflich als moralische Frage diskutieren, es ist aber vor allem eine rechtliche Frage. Neben der Rechtssituation stellt sich auch die Frage, welche Voraussetzungen die Menschen mitbringen. Man kann nicht alle Menschen über einen Kamm scheren. Wir sehen das im Bereich der Beschäftigungslosen nicht nur bei Menschen mit Fluchtkontext, sondern im Allgemeinen, dass es ganz unterschiedliche Qualifikationen und damit Herausforderungen für die Ankunft am Arbeitsmarkt gibt.

Die rechtliche Situation geht zurück auf die Sonderverordnung, die von der Politik erlassen wurde. Es wäre auch 2015 möglich gewesen, eine andere rechtliche Situation zu schaffen.
Es ist auch faktisch eine andere Situation. Ich glaube, man kann Menschen, die aus Systemen kommen, in denen die Bildungsfrage einen anderen Stellenwert hat, nicht mit jenen Menschen aus der Ukraine vergleichen, die nun ins Land kommen. Und das ist bitte keine Beurteilung, das würde ich mir nie anmaßen. Ich muss mir ganz genau die Qualifikation und die Möglichkeiten der Qualifizierung anschauen. Aufgabe der Politik ist es, treffsicher das zu tun, was es braucht. Also dort einzusteigen, wo es die Situation verlangt.

Wird es wieder Deutschkurse geben? Die wurden ja interessanterweise abgeschafft.
Der Bund wird sie wieder einführen, ja. Damals 2015 – und ich muss jetzt verallgemeinern, was ich nicht gerne tue – hatten wir in höherem Ausmaß die Herausforderung, Menschen zu unterstützen, den Pflichtschulabschluss nachzuholen und Deutschkurse anzubieten. Jetzt sind wir wahrscheinlich in einer Situation, wo wir Geflüchtete schneller den Zugang zum Arbeitsmarkt möglich machen können.

Menschen, die 2015 ins Land kamen, hatten oft lange Asylverfahren, in denen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt bleibt.
2015 haben Asylverfahren sehr lange gedauert, ja, im Schnitt waren wir auch in der Steiermark bei weit über einem Jahr, das ist zu kritisieren, weil uns da sicher auch Möglichkeiten genommen wurden für die Integration. Aber noch einmal: Die rechtliche Situation ist eine andere und obendrein eine EU-Entscheidung, die vom Bund getragen wird und auf die wir keinen Einfluss haben.

Aber wie ist Ihre persönliche Meinung? Ist es fair, einen Unterschied zwischen Flüchtlingen aus dem Nahen Osten oder Afghanistan zu machen und jenen aus der Ukraine? Auch, wenn es so sein mag, dass die Menschen in der Ukraine westlicher sozialisiert und unseren Werten näher sind. Und auch, wenn 2015 auch viele Wirtschaftsflüchtlinge auf dem Weg nach Zentraleuropa waren.
Der Begriff Wirtschaftsflüchtlinge gefällt mir nicht. Ich habe selber drei Kinder, wenn ich die nicht mehr versorgen könnten, würde ich meine Heimat auch verlassen. Ich habe die Unterteilung nie für notwendig erachtet. Ich glaube auch nicht, dass jemand leichtfertig oder gerne flüchtet.

Aber heißt das nicht, jeder hätte im Lande bleiben sollen, der 2015 gekommen ist?
Nein, dafür haben wir einen Rechtsstaat. Wir sind vereidigt auf Gesetze und das ist die Basis unseres Handelns.

Wie weit sind eigentlich die Integrationsfortschritte der Menschen, die 2015 gekommen sind?
Das ist die Zuständigkeit des AMS. Wir waren immer dafür, dass auch Menschen mit langem Asylverfahren eine Form der Beschäftigung erhalten. Aber da waren die bundespolitischen Bedingungen nicht entsprechend zu dieser Zeit, dafür gab es keine Mehrheiten. Heute haben wir für die Menschen aus der Ukraine die Möglichkeit der raschen Integration am Arbeitsmarkt und ich halte das für ganz wichtig und großartig.

Wie groß ist die Gefahr, dass die Solidarität mit den Flüchtlingen aus der Ukraine kippt? Auch 2015 gab es anfangs eine große Solidarität.
Ich würde es umgekehrt formulieren. Die Welle der Solidarität ist unglaublich. Ich glaube auch, dass sie breiter getragen wird als damals. Es ist das eine, spontan zu helfen, aber das andere ist, die Geflüchteten langfristig zu unterstützen. Wir haben großartige Freiwillige, die in ein großartiges Netzwerk mit den zuständigen Behörden und tollen NGOs eingebunden sind. Dieses Dreieck stimmt mich positiv und ich hoffe, dass wir die Solidarität lange aufrechterhalten können.

Foto: Erwin Scheriau

Ist die Fluchtbewegung aus der Ukraine also besser vergleichbar mit jener im Zuge des jugoslawischen Bürgerkriegs?
Möglicherweise. Wir hören das aktuell immer wieder, auch den Vergleich mit der Ungarnkrise 1956. Vielleicht ist es aufgrund der geografischen Lage und des europäischen Kontinents eine andere Situation. Dennoch bin ich gegen Vergleiche. Wir müssen jetzt einfach akut handeln und unser Bestes tun.

Weg von der Flucht, hin zu Sozialbudgets. Nach 1989 sind die Kriegsbudgets massiv nach unten gegangen. Man spricht von der sogenannten Friedensdividende, die eins zu eins in den Sozial- und Gesundheitsbereich geflossen ist. Wir hatten 2021 ein Heeresbudget von 2,7 Milliarden Euro, nun spricht man davon, dass 10 Milliarden Euro in das Heer investiert werden müssen. Haben Sie Sorge, dass sich der Sicherheitsbereich die Friedensdividende wieder zurückholen wird? Das würde für die Steiermark Hunderte Millionen Euro weniger an Ertragsanteilen bedeuten.
Ich verstehe die Frage und halte die Diskussion für wichtig. Ich glaube aber nicht, dass die Budgets in Konkurrenz stehen. Ich glaube, soziale Sicherheit ist von enormer Bedeutung und durch einen gut funktionierenden Sozialstaat kann enorm viel an Spannung und Sorge in der Bevölkerung abgefangen werden kann. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch Akzente im Bereich Sicherheit und Schutz im militärischen Sinn geben kann und darf.

Der ehemalige bundesdeutsche Präsident Joachim Gauck warf in einer Talkshow die Frage auf, ob wir nicht für den Frieden frieren sollten. Was halten Sie davon?
Für mich als Soziallandesrätin ist es eine ganz schwierige Situation, dass sich immer mehr Menschen das Leben nicht mehr leisten können. Die Energiekosten sind ein Thema, das Tanken zuletzt, die Lebensmittel sowieso. Von Frieren zu reden, ist nicht mein Zugang und so haben wir deshalb gerade den Heizkostenzuschuss erhöht. Außer Frage steht, dass Klima- und Sozialpolitik Hand in Hand gehen und ein Zurücknehmen im Sinne unseres Planeten nicht schadet. Aber Zurücknehmen darf nie auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen werden. Also müssen wir über Mindestlöhne reden und auch über die Erhöhung der Pensionen …

Auch über die Sozialhilfe?
Ja. Immer. Man muss überall hinschauen und alle Instrumente permanent evaluieren. Wir haben in der Steiermark ein stabiles System. Wir indexieren die Sozialhilfe jährlich im Jänner. Wir sehen allerdings andere Hebel, die besser wirken. Wie etwa der Heizkostenzuschuss, die Pendlerbeihilfe und die Wohnunterstützung. Die Systeme müssen weiterentwickelt werden, damit die Menschen gut und sicher leben können. Auch, wenn der Krieg in der Ukraine eine Rolle spielt, hatten wir – nicht zuletzt durch die Pandemie – schon zuvor enorme Preissteigerungen und soziale Verwerfungen. Darüber hinaus gibt es neben Grundbedürfnissen auch psychische Belastungen, die in der Pandemie gestiegen sind. Das Gefühl, dass die Welt nicht mehr zur Ruhe kommt, ist sehr belastend. Auf der anderen Seite gibt es diese Hilfsbereitschaft der Steirerinnen und Steirer, die wir gerade jetzt während der Ukrainekrise sehen.

Frau Kampus, vielen Dank für das Gespräch!

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Doris Kampus wurde am 26. April 1967 in Köflach geboren. Sie studierte Übersetzung sowie Dolmetsch in Graz und war von 1996 bis 2001 Geschäftsführerin des Regionalmanagement Obersteiermark-Ost. Nach sieben Jahren als selbstständige Unternehmensberaterin übernahm sie 2008 die Abteilung für die Landes- und Gemeindeentwicklung im Amt der Steiermärkischen Landesregierung. Seit Juni 2015 ist sie als Landesrätin für die Bereiche Soziales, Arbeit und Integration zuständig. Kampus ist verheiratet und hat drei Kinder.

Fazitgespräch, Fazit 181 (April 2022), Fotos: Erwin Scheriau

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