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Außenansicht (38)

| 10. Dezember 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Außenansicht, Fazit 188

Selbstgespräche über Denkverbote. Sonntagabend spiele ich Tennis im Sportcenter Donaucity in Wien, jenseits der Donau in der großen Sportanlage der Gemeinde Wien mit Volleyball-, Fußball- und Tennisplätzen.

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Wir sind eine Gruppe mit Spielern und Spielerinnen aus den verschiedensten Ländern. Viele arbeiten bei internationalen Organisationen, Botschaften oder den Wiener Büros ausländischer Unternehmen. Die verbindende Sprache ist Englisch. In der Gruppe spielen auch Russen, die in der Botschaft arbeiten. Politik ist kein Thema, es geht um Tennis und sonst nichts. Neben Tennis ist der Sportklub besonders für Fußball beliebt. Gruppen aus den verschiedensten Ländern spielen dort. Teams aus Korea, Tunesien, Syrien, der Türkei und China trainieren und kämpfen gegeneinander, als gäbe es keine politischen oder religiösen Konflikte.

Sonntagabend spielen auch die Ukrainer dort. Warum nicht, würde jeder denken, die spielen halt gerne Fußball, wahrscheinlich ist es in ihrem Land derzeit schwieriger, und wenn man schon seine Heimat wegen Krieg und Katastrophen verlassen muss, ist ein Abend mit Fußball wahrscheinlich die beste Ablenkung. Wenn ich dort ankomme, Sonntagnachmittag, um mich umzuziehen, und einen der wenigen Parkplätze weit weg von Eingang finde, gehe ich an den Autos vorbei, um die Umkleideräume zu erreichen. Da stehen die Autos der Ukrainer, ein Bentley, mehrere sündteure Mercedes und BMWs, alle zusammen unterscheiden sie sich vom Anschaffungspreis von den anderen dort geparkten Autos der Tennisspieler und der fußballspielenden Syrier, Tunesier und Türken.

Ich geh an den Autos vorbei und spreche mit mir selbst: Du darfst das nicht verurteilen, nicht bewerten, auch Reiche müssen flüchten dürfen und niemand kann ihnen vorwerfen, dass sie große Autos haben, du darfst nicht so kleinlich argumentieren wie andere, die voller Neid und Eifersucht auf die Autos von Flüchtlingen sehen, die nach Österreich gekommen sind, um hier zu überleben, du kannst dich nicht von deinen Vorurteilen leiten lassen, du darfst deine Solidarität mit den Ukrainern nicht von ihren Autos abhängig machen, du darfst die Aggression der Russen jetzt nicht relativieren, nur weil es reiche Ukrainer gibt, die sich nach Wien absetzten, du darfst … du musst … du kannst nicht.

Ich versuche, meine Logik und meine Denkweise zu kontrollieren. Doch da gibt es Hindernisse. Angeblich sind etwa 80.000 Ukrainer und Ukrainerinnen in Österreich. Um hier arbeiten zu dürfen, müssen sie eine »Blaue Aufenthaltskarte« beantragen. Weniger als zehn Prozent haben diese bisher beantragt. Vor ein paar Tagen erreichte den Westen ein Hilferuf aus der Ukraine, dass dringend Decken für den Winter benötigt werden. Wie viele Decken könnte man um den Wert eines Bentley kaufen? Bei einem Preis von etwa 250.000 Euro für einen Bentley and drei Euro für eine Decke bei Ikea kann man das sich selbst ausrechnen.

Natürlich hat die Verurteilung des Überfalls der Ukraine nichts mit all dem zu tun. Die Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung ist und bleibt eine Verantwortung des Westens. Doch da ist dieser bohrende Zweifel in meinen Gedanken, der mich nicht loslässt: Wie viel Eigenverantwortung ist zumutbar? Als mein Vater 1938 nach England flüchtete, musste er in der Landwirtschaft arbeiten. Meine Mutter, die sich aus Prag nach England retten konnte, machte eine Ausbildung als Krankenschwester, da London wegen der Bombenangriffe der Deutschen dringend medizinisches Personal benötigte. Beide konnten kein Wort Englisch.

Die Reihe der Luxusautos der fußballspielenden Ukrainer stört wie Sand im Getriebe meiner Hilfsbereitschaft, meines Verständnisses, meiner bedingungslosen Solidarität. Ebenso die geringe Bereitschaft, hier in Österreich zu arbeiten. Restaurants, Hotels und viele andere Unternehmen kämpfen mit Personalmangel und können keine Mitarbeiter finden. Die Verpflichtung zu arbeiten ist zumutbar, eine arbeitsfreie Unterstützung keine Verpflichtung der Bevölkerung, die Flüchtlinge aufnimmt.

Bisher führte ich Selbstgespräche zu diesem Thema. Es gibt ein Denk- und Sprechverbot, wenn es um die Ukraine geht. Jeder Zweifel, jeder Vorschlag, jede Kritik birgt die Gefahr, als »Putinversteher« isoliert und denunziert zu werden – eine ungewöhnliche Entwicklung unserer Demokratie. Oder auch schon ganz normal und nicht überraschend.

Außenansicht #38, Fazit 188 (Dezember 2022)

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