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| 27. Dezember 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 189, Fazitgespräch

Foto: Erwin Scheriau

Neuroth-CEO Lukas Schinko im Gespräch über das Hörgerät auf dem Weg zum stilischen Designaccessoire, die Herausforderung mit den Babyboomern und über Entrepreneur Elon Musk.

Das Gespräch führten Peter K. Wagner und Johannes Tandl.
Fotos von Erwin Scheriau.

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Es ist Tag der »Ugly Sweater« in der Neuroth-Zentrale im Süden von Graz. Zumindest in der Abteilung, in der auch die Office Managerin und der Pressesprecher von Lukas Schinko tätig sind. Unten sticht uns ein Manner-Pullover im Weihnachtslook ins Auge, oben zeigt der Kommunikationsprofi Thomas Huber seine Fußballleidenschaft für einen schwarz-weißen Traditionsverein.

Ein Tischkicker ist es dann auch, der uns gleich ins Auge springt, als wir die »Hörbar« betreten, so etwas wie die Mitarbeiterküche in stylischem Neuroth-Design. Einmal weiter ums Eck wartet dann an diesem 7. Dezember auch noch ein kleiner Schokonikolaus auf uns.

Am 13. Dezember 1907 wurde das Hörakustikunternehmen Neuroth in Wien gegründet, ehe es 1979 nach Graz übersiedelte. »Meine Mutter ist Wienerin, mein Vater Steirer – die Liebe hat sie verbunden und die Steiermark hat gewonnen«, erklärt lachend Lukas Schinko. Heute beschäftigt die Aktiengesellschaft mit Sitz in Lebring bzw. Graz etwa 1.200 Menschen in acht Ländern und erwirtschaftet rund 140 Millionen Euro im Jahr. Geführt werden die Geschäfte von Schinko in vierter Generation. Bereits 2011 übernahm er mit nur 24 Jahren den Chefposten von seiner Mutter. Und nun nimmt er mit uns im Besprechungsraum Platz.

***

Herr Schinko, Neuroth ist eines der ältesten Unternehmen des Landes. Alte Unternehmen überleben nur selten so lange die erforderlichen Strukturwandel. Wie hat Neuroth es geschafft?
Ganz viel liegt an unserer Geschäftsgrundlage, der in unserem Slogan manifestiert ist: Besser hören und besser leben. Unserer Gründerin hat 1907 als Frau ein Unternehmen gegründet, weil es ihr um Lebensgefühl und -qualität ging. Das Hörgerät hat sich in dieser Zeit viele Male technologisch weiterentwickelt und damit auch das Thema der Anpassung für unsere Kunden. Am Ende ging es aber immer darum, das Hören zurückzugeben. Das tun wir seit dem ersten Tag und es ist unser Anspruch. Wir mussten konsequent am Puls bleiben und haben etwa früh auf eine Private Cloud gesetzt. Wir haben Innovationsgeist im Blut und uns nie davor gescheut, Neues umzusetzen.

Foto: Erwin Scheriau

Wann hat Neuroth die Marktführerschaft in Österreich errungen?
2009, 2010 etwa. Viennatone war davor führend, wurde aber 2004 an Hansaton verkauft.

Hansaton ist gleichzeitig Lieferant und Konkurrent. Wie sieht die Marktstruktur aus?
In Slowenien gibt es jeden Monat einen Report, wie viele Hörgeräte mit Krankenkassen abgerechnet wurden – so etwas fehlt in Österreich. Es ist also schwer zu sagen, wie sich die Markanteile genau verteilen, weil es keine Daten gibt. Aktuell ist knapp jedes zweite Hörgerät in Österreich von uns. Der Markt wächst jährlich um drei bis fünf Prozent – und unser Ziel ist es, das Marktwachstum mitnehmen zu können.

Sieht sich Neuroth als Technologiekonzern oder als Gesundheitsdienstleister?
Wir sind Gesundheitsdienstleister mit einer vertieften Wertschöpfung am Standort in Lebring, weil nicht nur das Hören, sondern auch die Anatomie des Ohrs sehr individuell ist. Wir haben sehr früh erkannt, dass das eine Spezialisierung von uns sein muss, dass wir Hörgeräte selbst anpassen müssen. Viele andere haben diese sogenannte Otoplastik nicht im Haus, sondern an die Hörgeräteherstellern ausgelagert. Das Berufsbild des Hörberaters nimmt dramatisch in der Wichtigkeit zu, weil sich die Technik so weiterentwickelt und der Kunde, schon bevor es zum Handwerk der Anpassung kommt, ordentliche Beratung haben möchte, welche Möglichkeiten es eigentlich gibt.

Ist Hörberater ein eigenes Berufsbild?
Offiziell noch nicht. Wir versuchen, es Stück für Stück zu einem Berufsbild zu entwickeln. Nicht nur intern, sondern auch extern, gestützt durch Ausbildungsrichtlinien eines deutschen Akustikinstitut. Der Hörakustiker ist ein Lehrberuf, den es schon lange gibt, und der neben Optikern oder Orthopäden Teil der Gesundheitsberufe ist.

Wie wichtig ist Ihr Filialnetz für Ihr Geschäft?
Sehr, weil man Hörgeräte nicht vernünftig online kaufen kann. Es gibt zwar Modelle, die es online gibt, aber ein wesentlicher Teil des Versorgungsprozesses ist die Dienstleistung – des Akustikers zur Verbesserung des Hörens. Das kann über Videokonferenzen oder andere Tools theoretisch auch online gemacht werden, aber es geht auch um Zwischenmenschliches. Ich kann über den Bildschirm schwer Empathie aufbauen – Hören ist aber sehr empathisch. Man muss sich das so vorstellen: Wenn Sie schlecht sehen und setzen eine Brille auf, dann ist es ist auf einmal scharf. Das kann auch anstrengend sein, aber sie fühlen sofort einen Benefit. Wenn Sie schlechter hören, haben Sie über einen längeren Zeitraum immer schlechter gehört – man verlernt quasi das Hören. Wenn das Hörgerät – bildlich gesprochen – von der Verstärkung her voll aufgedreht, hat man einen Informationsoverflow. Der Prozess dauert – je nachdem, wie fit man ist – drei bis sechs Monate.

Ist dieser Prozess der USP von Neuroth?
Ja, unsere Kundennähe zeichnet uns mit Sicherheit aus. Man darf nicht unterschätzen, was für ein großer Schritt es für Menschen ist, sich einzugestehen, dass sie schlecht hören und dass sie etwas dagegen tun müssen. Das Produkt Hörgerät selbst hat mittlerweile nicht mehr so ein Stigma. Hörgeräte schauen schön aus und gewinnen Designpreise. Wir wollen daher den Menschen sagen, dass sich niemand schämen muss. Vor 30 Jahren wurde auch von der Brillenschlange gesprochen und jetzt ist die Brille ein Modeartikel, den sich manche mit Fensterglas aufsetzen.

In der ganzen westlichen Welt gibt es den Bedarf an Hörgeräten. Warum gibt es keinen Megakonzern, der sich versucht, den Weltmarkt unter den Nagel zu reißen?
Es gibt sie. Zum Beispiel Sonova mit Milliardenumsätzen. Das Produkt selbst ist aber noch immer eher eine Nische.

Was sind die Markteintrittsbarrieren?
Es braucht Mitarbeiter mit der Kompetenz, Hörgeräte gut anpassen zu können, und das muss auf ein großes Filialnetz skaliert werden.

Kann Neuroth überhaupt wachsen bei dem akuten Personalmangel in allen Branchen?
Wir bilden jedes Jahr Akustiker aus. Es gibt eine Fluktuation und Pensionierung, aber wir wachsen konsequent, wodurch wir das Marktwachstum auch abdecken können. Wenn man sich das Potenzial anschaut, ist nur etwa ein Viertel der Betroffenen in einem Versorgungszyklus. In Österreich haben rund 20 Prozent der Bevölkerung einen Hörverlust, der versorgt werden sollte. Im Durchschnitt warten Betroffene sieben bis zehn Jahre auf Behandlung, obwohl ihnen bewusst ist, dass sie unter Hörverlust leiden. Unser absolutes Bestreben ist es, diese Zeitspanne zu reduzieren. Das Hörgerät wird ja vom Staat bezuschusst und Hörverlust verursacht einen gewaltigen volkswirtschaftlichen Schaden. In Europa schätzt die WHO die Kosten aufgrund von unversorgtem Hörverlust jährlich auf 216 Milliarden Euro. Dabei geht es um Dinge wie den Rückzug aus der sozialen Interaktion, Konsumrückfall, frühere Pensionierung oder Arbeitszeitreduktion und vieles mehr. Wir sehen eine gesellschaftliche Pflicht, auf das Thema Hören aufmerksam zu machen.

Foto: Erwin Scheriau

Ist das die Aufgabe von Neuroth oder die Aufgabe der Mediziner?
In der Erstversorgung muss ein Betroffener zum HNO-Arzt, um sich ein Rezept zu holen und einen Zuschuss von der Krankenkassa zu bekommen. Bei zwei Geräten sind es in der Regel bis zu 1.400 Euro, was dazu führt, dass auch ohne persönliche Zuzahlung eine sehr gute Hörgerätversorgung möglich ist. Es gibt aber teure Zusatzfunktionen, die von der Krankenkassa nicht bezahlt werden – wie etwa eine Bluetooth-Anbindung, die technische Rauschunterdrückung und viele andere Zusatzfunktionen.

Warum sind die einen Hörgeräte sichtbar und die anderen nicht?
Das hängt mit der Anatomie zusammen. Manche Gehörgänge machen es erforderlich, ein Hörgerät außen zu tragen. Dazu gibt es weitere medizinische Gründe, die Geräte außen zu tragen. Wir empfehlen unseren Kunden, ihr neues Hörgeräte 14 Tage zur Probe zu nutzen. Das bieten wir seit jeher an. Wir sagen unseren Kunden immer, dass sie unter die Leute gehen sollen, um herauszufinden, ob das Hörgerät bemerkt wird. Dem Großteil fällt es nicht auf, aber die Träger haben trotzdem das Gefühl, einen Rollstuhl am Ohr zu tragen. Das versuchen wir den Leuten aus den Köpfen zu bringen.

In den Oberösterreichischen Nachrichten stand vor zwei Jahren, dass die ganze Branche große Angst hat, dass Pearle oder Fielmann in den Markt einsteigen. Ist das realistisch?
Fielmann hat es bereits getan – zumindest in der Schweiz und in Deutschland. Es gibt auf den ersten Blick eine gewisse Nähe zwischen den Bereichen Optik und Akustik. Auch wir haben es Anfang der Zweitausenderjahre bereits mit Optik probiert. Wir haben aber bald erkannt, dass wir uns auf die Akustik konzentrieren müssen. Daher gibt es inzwischen eine Kooperation mit Optik Wutscher, die gut funktioniert, weil wir ähnliche Leute ansprechen und eine ähnliche Zielgruppe haben.

Die Ohren der Babyboomer sind doch sicher durch Arbeits- oder durch Discolärm enorm geschädigt. Kommt eine große Welle auf Neuroth zu?
Die ist schon da. Was wir auch gesehen haben: Die Babyboomer bringen die große Sorge mit, durch ein Hörgerät als alt zu gelten. Das bringt eine noch höhere Hürde mit sich, ein Hörgerät in Anspruch zu nehmen, als bei den Generationen davor. Diese Menschen adaptieren den schleichenden Hörverlust über Jahrzehnte und lernen etwa durch Lippenlesen und andere Techniken viel des Nichtmehrgehörten zu kompensieren. Aus der Logik heraus, weiß ich schnell, ob etwa über die FPÖ oder die SPÖ gesprochen wird. Bei Hörverlust höre ich meistens nur »PÖ«. Nur aus dem Kontext zu verstehen, ist aber enorm anstrengend.

Es gibt Hörgeräte, die sogar Gehörlosen das Hören wieder möglich machen. Ist das auch der Markt von Neuroth?
Da geht es meist um Implantate und da sind die Mediziner direkt mit den Herstellern in Kontakt. Mit der MED-EL in Innsbruck [Anmerkung: MED-EL Elektromedizinische Geräte Gmbh.] gibt es da auch in Österreich einen tollen Produzenten. Wir kommen da erst beim Service wieder zum Tragen.

Neuroth hat mit Mika Häkkinen ein bekanntes Gesicht als Testimonial. Der ehemalige Formel-1-Weltmeister trägt Hörgeräte. Funktioniert diese Kampagne?
Bei seinem Unfall in Australien hatte er eine Schädelfraktur und hat dabei auf einer Seite sein Gehör fast vollständig verloren und auf der anderen Seite ist die Hörfähigkeit eingeschränkt. Seitdem ist er Hörgeräteträger. Wir setzen ihn nicht mehr stark in unserer Kommunikation ein, weil wir draufgekommen sind, dass wir näher an die Bevölkerung rankommen müssen. Die Menschen denken zwar, dass ein Formel-1-Fahrer ein Hörgerät benötigt, aber schließen dadurch nicht automatisch auf sich – dass es auch für sie von Bedeutung sein könnte. Gut Hören darf kein Thema mehr sein.

Ist es ein Weg, dass man zuerst zum Hörtest bei Neuroth geht und später erst zum HNO-Arzt?
Wir können handwerklich einen Hörverlust feststellen, aber der Mediziner muss draufschauen. Das ist nicht nur in Österreich so, sondern überall.

Als Sie das Unternehmen übernommen haben, lag der Umsatz bei 90 Millionen Euro, heute sind es 140 Millionen. Welche Wachstumsstrategie verfolgen Sie?
Wir sehen ganz klar die Wachstumsmärkte Österreich-Schweiz, südliches Deutschland, aber auch Südosteuropa.

Warum Südosteuropa?
Weil wir dort sehr viel von jenem Handwerk und jener Qualität, die wir in anderen Märkten erlernt haben, tagtäglich qualitätssteigernd einbringen können. Wir sind vor bald zwei Jahren in Serbien eingestiegen. In der Vergangenheit war der Hörgerätakustiker irgendwo im zweiten oder dritten Stock versteckt – wir haben gesagt, wir müssen uns nicht verstecken, weil wir schöne Produkte haben und gehen ins Erdgeschoß mit Schaufenster. Das sind Entwicklungen, mit denen wir dem Produkt und damit dem Thema »Gut Hören« die notwendige Sichtbarkeit geben.

Wäre es ein Ziel, globaler am Weltmarkt mitzumischen?
Das ist als Retailer nicht so einfach. Eine Skalierung mit Shopnetz ist wahnsinnig kapitalintensiv. Wir haben vorher schon von den Mitarbeitern gesprochen – das Ausbilden kompetenter Mitarbeiter braucht seine Zeit. Da gibt es auch andere Herausforderungen: Man braucht in Österreich etwa für zwei Geschäfte, die eine gewisse Nähe haben müssen, mindesten einen Hörakustikmeister.

Gibt es einen funktionierenden Arbeitsmarkt?
Die Akustiker, die wechseln, gibt es natürlich. Das ist wie in jeder anderen Branche. Was wir gut können, glaube ich: Wir halten und binden Mitarbeiter, weil wir auf ein sehr gutes Miteinanderauskommen setzen.

Wie erreicht Neuroth dieses gute Auskommen?
Am Ende ist es die Unternehmenskultur.

Foto: Erwin Scheriau

Sie selbst wurden bereits mit 24 Jahren Vorstandsvorsitzender der Gruppe. Wie herausfordernd war das?
Ich habe zwei Momente in meinem Leben, die prägend waren. Der eine war die Meisterprüfung, die ich bei uns absolviert habe. Das war für mich mehr Stress als die Matura, weil ich wusste, dass bei uns Dutzende Mitarbeiter diese bereits bestanden haben. Ich kann nur ein guter Chef sein, wenn ich beim ersten Mal durchkomme. Der andere war die geglückte Übernahme. Meine Mutter musste damals sehr schnell übernehmen, weil ihr Vater gestorben ist. Ich hatte es besser. Sie hat mir anfangs noch zur Seite stehen können. Sie wollte den Wurf ins eiskalte Wasser verhindern und der Übergang ist uns dadurch gut gelungen.

Sie sind das jüngste von drei Kindern. Warum haben ausgerechnet Sie übernommen?
Mein Bruder ist im Aufsichtsrat aktiv noch immer, aber – so spannend es klingt im Nachhinein – für mich war schon während der Schulzeit klar, dass ich mir die Frage gestellt habe: Will ich etwas Bestehendes weiterführen oder etwas Neues aufbauen? Meine Antwort war: Anstrengend ist beides, aber bei einer Übernahme startet man an einer anderen Position. Deswegen wurde es die Übernahme.

Elon Musk hat auch als Millionär gestartet auf seinem Weg zum Multimilliardär. Was plant Lukas Schinko?
Sicher nicht, ein Elon Musk zu werden. [lacht] Wenn man ein Familienunternehmen hat, das es schafft, übergeben zu werden, ist das herausfordernd und schön genug als Aufgabe. Und das ist mein Ziel, einmal an die nächste Generation zu übergeben.

Was macht Lukas Schinko eigentlich privat, um Kraft zu tanken?
Die Familie und meine beiden Kinder stehen an erster Stelle. Das lernt man erst dann, wenn man Familie hat, was es an Kraft zurückgibt. Für mich selbst war es eine Zeit lang sehr viel Sport. Ich bin früher sehr viel gelaufen – irgendwann ging es Richtung Wassersport und ich bin jetzt leidenschaftlicher Kitesurfer.

Herr Schinko, vielen Dank für das Gespräch!

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Lukas Schinko wurde am 6. März 1987 geboren. Er besuchte die HTL Bulme für Nachrichtentechnik in Graz und stieg im August 2007 in die Neuroth-Gruppe seiner Mutter ein. 2011 übernahm er, mit erst 24 Jahren, als Vorstandsvorsitzender das Unternehmen. Schinkos Großvater war der Neffe der kinderlosen Unternehmensgründerin Paula Neuroth. Lukas Schinko ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Schweiz. neuroth.at

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