Außenansicht (42)
Peter Sichrovsky | 12. Mai 2023 | Keine Kommentare
Kategorie: Außenansicht, Fazit 192
Ist Vertrauen die Grundlage der Wahlentscheidung? Ich bin kein Mitglied der SPÖ, muss aber gestehen, ich war einmal eines. Als ich nach der Matura vom Haus der Eltern ausziehen wollte – ja, damals verließen Studenten und Studentinnen sogar vor dem Erreichen des 30. Geburtstags das Zuhause – versuchte ich es mit verschiedenen Genossenschaften, um eine billige Wohnung zu bekommen.
::: Hier im Printlayout online lesen
Gemeinsam mit meiner Freundin klapperten wir die Büros der Wohnbaugenossenschaften ab. Die Antworten waren immer die gleichen: Gern könnten wir uns in eine Liste eintragen, die Wartezeiten wären zwischen fünf und zehn Jahre, da wir weder verheiratet sind noch Kinder haben oder erwarten, könnte es auch ein wenig länger dauern.
Bis einer der Mitarbeiter im Büro der Wohnungsverteilung eine Bemerkung machte, man könne diesen Prozess eventuell beschleunigen. Auf meine neugierige Frage: »Wie denn, bitte?«, sagte er, er würde eine Kollegin abends vorbei schicken. Die nette Dame brachte ein Formular mit, wenn ich es ausfülle und unterzeichne, gäbe es bald eine Wohnung. Es war die Beitrittserklärung für die SPÖ. Ich füllte es aus, unterschrieb und bekam drei Wochen später die Verständigung, dass ich auf der Liste der Wartenden nun die Nummer eins sei. Ist alles natürlich sehr lange her.
Vielleicht bin ich immer noch Mitglied, hatte jedoch nie den Mitgliedsbeitrag bezahlt und bezweifle, dass man mir das so viele Jahrzehnte lang verziehen hätte. Schade, sonst könnte ich jetzt mitwählen, zwischen zwei Kandidaten und einer Kandidatin. Als demokratisch geschulter Wähler hätte ich mir die Programme und unterschiedlichen Ideen angesehen und neugierig auf eine direkte Konfrontation der Kandidaten und der Kandidatin gewartet. Doch wo hätte ich die Programme gefunden? Wo hätte ich mir die Diskussion angesehen? Wenn sich Drei bewerben, was unterscheidet sie, bei welchen Themen widersprechen sie einander?
Die Sozialdemokratie hat den Nachteil, dass ihre ursprünglichen Ziele weitgehend erreicht wurden. Tatsächlich haben sich Arbeits- und Lebensbedingungen verbessert, die Arbeitszeit wurde kürzer, Pensionssysteme, Gesundheitsversorgung und Urlaubsanspruch für alle, was bleibt also noch zu erkämpfen? Die meisten Wähler und Wählerinnen leben in sozialer Sicherheit, sodass mit neuen Forderungen zur Verbesserung der Lebensumstände kaum noch genügend Wahlberechtigte motiviert werden könnten. Verlange ich zum Beispiel freie Kindergartenplätze, würden Familien, die sich Kindergärten nicht leisten könnten, vielleicht die SPÖ unterstützen. Aber reicht das, um eine Wahl zu gewinnen? Wie viele benachteiligte Gruppen muss man mit Versprechungen überzeugen, um genug Stimmen zu bekommen? Das System kann nur scheitern – so viele Geschenke trägt nicht einmal der Weihnachtsmann im Sack, bevor er noch mit der Verteilung begonnen hat.
Bieten die zwei zukünftigen Parteichefs und die Parteichefin neue Ideen, wie sich eine sozialdemokratische Partei zwischen den anderen politischen Gruppen platzieren könnte, um ein Wählersegment mit unverwechselbarer Politik anzusprechen? Oder reduziert sich alles auf die grundsätzliche Frage: Was ist »links« und was ist »rechts«? Wenn jedoch »rechts« nur mehr erkennbar ist durch Fremdenfeindlichkeit und Relativierung der NS-Zeit, würde dann links bedeuten, fremdenfreundlich und antifaschistisch zu sein? Wenn fehlende Programme nicht motivieren, bleibt nur mehr die Persönlichkeit, die Sympathie gegenüber einem Kandidaten, einer Kandidatin. Sie werden gewählt, weil man ihnen vertraut. Auch das ist komplizierter, als man denkt. Vertrauen reduziert sich nicht auf einheitliche Motive. Der oder die vertraut dem oder der aus unterschiedlichen Gründen. Gedanken, die sich in einem Vertrauensvorschuss bündeln, sind schwer zu lenken und zu beeinflussen, oft nicht nachvollziehbar.
Drei unterschiedliche Persönlichkeiten bewerben sich um die Führung in der SPÖ mit wenig unterschiedlichen Programmen. Reduzieren sich Sieg oder Niederlage in der Politik in Zukunft auf programmunabhängige Sympathie und Vertrauen? Hat die unterschiedliche Persönlichkeit in Zukunft einen wichtigeren Anteil am möglichen Wahlsieg als unterschiedliche politische Strategien? Wird dann die Manipulation der emotionalen Motive der Entscheidung zur Wahlstrategie der Zukunft?
Außenansicht #42, Fazit 192 (Mai 2023)
Kommentare
Antworten