Antisemitismus im Islamismus. Ideengeschichtliche Bedingungsfaktoren, agitatorische Erscheinungsformen und soziale Verankerung
Redaktion | 8. Dezember 2023 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 198
Ein Essay von Tomas Kubelik. Sie bestreiten das Existenzrecht Israels und fordern seine Auflösung: Der Antisemitismus ist bei Islamisten ein wichtiges Thema. Sie verbinden dabei judenfeindliche Hetze aus Europa mit feindseligen Aussagen aus der Frühgeschichte des Islam.
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Dr. Armin Pfahl-Traughber, 1963 in Schwalmstadt geboren, ist deutscher Politikwissenschaftler und Soziologe. Er war Referatsleiter in der Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln. Seit 2004 ister Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung im nordrhein-westfälischen Brühl.
Antisemitismus ist nicht nur ein bedeutendes Agitationsthema von Rechtsextremisten, sondern auch von Islamisten. Sie nutzen dabei Stereotype und Vorurteile, die allgemein mit der judenfeindlichen Hetze in Europa vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert in Verbindung gebracht werden. Gleichzeitig verknüpft der islamistische Diskurs derartige Unterstellungen mit Aussagen über die Juden, welche auf die Frühgeschichte des Islam zurückgehen.
In der vor allem gegen den Staat Israel gerichteten antisemitischen Agitation von Islamisten kann man bezüglich der ideengeschichtlichen Perspektive demnach eine Mischung aus externen und internen Bedingungsfaktoren ausmachen. Wie sich derartige Auffassungen in den inhaltlichen Diskursen der Islamisten niederschlagen, soll hier anhand der unterschiedlichsten Gruppen, Netzwerke und Organisationen verdeutlicht werden. Dabei zeigen sich grundlegende inhaltliche Gemeinsamkeiten unabhängig davon, ob man sich eines gewaltfreien oder terroristischen Handlungsstils bedient.
Bezugspunkte für den islamistischen Antisemitismus in der Frühgeschichte des Islam
Inhaltliche Bezugspunkte dafür liefert zum einen die Frühgeschichte des Islam: Nach der offiziellen Überlieferung scheiterten Mohammeds Bemühungen, jüdische Stämme in Medina für seinen Glauben zu gewinnen. In der Folge kam es offenbar aus machtpolitischen Gründen zu kriegerischen Konflikten, welche mit der Niederlage dreier dieser Stämme endeten. Deren Angehörige wurden zunächst enteignet und vertrieben bzw. später versklavt und getötet. Dieser historische Hintergrund erklärt wohl mit, warum es im Koran überaus abwertende Kommentare zu den Juden gibt. Man wirft ihnen etwa vor, sie hätten den Bund mit Allah und den Muslimen gebrochen: »Und weil sie ihre Verpflichtung brachen, haben wir sie verflucht« (Sure 5, 13, vgl. auch u.a. 4, 46; 4, 155). Außerdem gelten die Juden als betrügerisch, heißt es doch etwa: »… und (weil sie) Zins nahmen, wo es ihnen doch verboten war, und die Leute in betrügerischer Weise um ihr Vermögen brachten. Für die Ungläubigen von ihnen haben wir (im Jenseits) eine schmerzhafte Strafe bereitet (Sure 4, 161, vgl. u.a. auch 2,100; 9, 34).
Diffamierungen von und Massaker an Juden in der Geschichte des Islam
Derartige Auffassungen prägten auch das Bild der Juden in der Geschichte des Islam. So erschien ab dem 9. Jahrhundert eine Reihe von Schmähschriften, welche an die Aussagen über die Juden im Koran anknüpften und für ein entsprechendes gesellschaftliches Klima sorgten. Trotz des Fehlens eines breit verankerten aggressiven Hasses gegen die Angehörigen der religiösen Minderheit kam es auch in der islamischen Welt zu Massakern an Juden. Einige Beispiele seien zur Veranschaulichung genannt: Zwischen 1010 und 1013 wurden Hunderte von Juden in den muslimischen Teilen Spaniens umgebracht; in Fez massakrierte man 1033 mehr als 6.000 Angehörige der religiösen Minderheit; und bei den muslimischen Unruhen 1066 in Granada kamen um die 4.000 Juden ums Leben. Auch gewalttätige Vertreibungen mit allerdings teilweiser Rückkehr prägten das Schicksal der Minderheit, so etwa 1016 in Kairouan, 1145 in Tunis oder 1232 in Marrakesch. Als Ursache lässt sich eine Mischung aus religiösen und sozialen Ressentiments gegen Andersgläubige und Aufsteiger ausmachen.
Bezugspunkte für den islamistischen Antisemitismus im europäischen Antisemitismus
Inhaltliche Bezugspunkte für den islamistischen Antisemitismus bestehen zum anderen aber auch in den besonderen Stereotypen des jahrhundertealten europäischen Antisemitismus, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der Kolonialisierung der arabischen bzw. islamischen Welt ebendort Verbreitung fanden. So entstanden etwa Ritualmordvorwürfe in der Folge der »Damaskus-Affäre« 1840: Hier führte man das Verschwinden eines Kapuzinermönchs auf den angeblichen Ritualmord eines jüdischen Barbiers zurück. In den folgenden Jahrzehenten kam es an zahlreichen Orten – teilweise mit Ausschreitungen gegen die Juden verbunden – zu einschlägigen Diffamierungen und Hetzkampagnen. Eine weitere Behauptung, die dem Agitationsarsenal des europäischen Antisemitismus entstammte, kann im Vorwurf von der »jüdischen Verschwörung« gegen die etablierte Ordnung gesehen werden. In Reaktion auf die 1908 erfolgte Revolution der »Jungtürken« im Osmanischen Reich deuteten deren Gegner diesen Schritt als Folge einer jüdischen Konspiration.
Antisemitismus in der Frühgeschichte des Islamismus
Insofern darf es auch nicht verwundern, dass derartige Auffassungen ab Ende der 1920er Jahre auch im politisch aktiven und organisierten Islamismus zunehmend an Bedeutung gewannen. Es kam sogar zu einer relativ intensiven Zusammenarbeit islamistischer und nationalistischer Kreise mit Hitler-Partei und NS-Staat, wobei die Initiative zu den Beziehungen ursprünglich von arabischer Seite ausging. Die diesbezüglich bedeutendste historische Figur war der Mufti von Jerusalem Muhammad Amin el-Husseini (1893-1974), der sich während des Zweiten Weltkriegs ganz offen in den propagandistischen Dienst der Nationalsozialisten stellte und im Radio Hetzansprachen gegen Juden hielt. Auf Konferenzen der »Muslimbruderschaft« fanden schon 1938 Übersetzungen der antisemitischen Fälschung der »Protokolle der Weisen von Zion« Verbreitung. Und der spätere »Chefideologe« der Muslimbruderschaft Sayyid Qutb (1906-1966) veröffentlichte Anfang der 1950er Jahre seinen Aufsatz »Unser Kampf mit den Juden«, worin sie von Beginn an als Feinde des Islam beschrieben wurden.
Antisemitismus in Publikationen der türkischen »Milli Görüs«-Bewegung
Spätestens seit Beginn der 1970er Jahre lässt sich bei den meisten islamistischen Organisationen eine Verstärkung der antisemitischen Agitation ausmachen. Das soll hier exemplarisch anhand von verschiedenen Strömungen aufgezeigt werden. Am Beginn steht die »Milli Görüs«-Bewegung, die in der Türkei über parteipolitisches Engagement politischen Einfluss erlangen will. Ihr bedeutendster Repräsentant, der zeitweilige türkische Ministerpräsident Necmettin Erbakan (1926-2011), hatte etwa in einer auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Schrift mit dem Titel »Gerechte Wirtschaftsordnung« (1991) behauptet: Der Zionismus sei ein Glaube und eine Ideologie, dessen Zentrum sich bei den Banken der Wall Street befinde. Die Zionisten hätten den Imperialismus unter ihre Kontrolle gebraucht und beuteten mittels der kapitalistischen Zinswirtschaft die gesamte Menschheit aus. Derartige und andere antisemitische Aussagen findet man auch regelmäßig in der Presse aus dem Umfeld von »Milli Görüs«, wofür vor allem die Zeitung »Milli Gazete« steht.
Antisemitismus in der Charta der palästinensischen »Hamas«
Auch die palästinensische »Hamas« vertritt eine antisemitische Grundposition, was sich aus dem Text ihrer Charta von 1988 gut ablesen lässt. Darin ist etwa bereits zu Beginn die Rede von einem langen und gefährlichen Kampf gegen die Juden, welcher die Hingabe von allen Muslimen nötig mache. Ausdrücklich spricht man von den »Juden«, nicht von den »Israelis« oder »Zionisten«. Danach findet sich eine Reihe von Zitaten aus dem Koran, die den islamfeindlichen, korrupten, kriegstreiberischen und verderblichen Charakter der Juden unter Beweis stellen sollen. Weiter heißt es: Der Feind habe für eine lange Zeit geplant und setze sein Geld ein, um im Hintergrund seine Interessen zu verwirklichen. Darüber hinaus stünde er hinter nahezu allen Kriegen und Revolutionen der Vergangenheit und Gegenwart. Es besteht demnach für die »Hamas« eine seit Jahrhunderten existente Verschwörung von Juden, die nach einem bestimmten Konzept vorgehen würden. Der Plan dazu finde sich in den »Protokollen der Weisen von Zion«, einer bekannten antisemitischen Fälschung.
Antisemitische Auffassungen im Diskurs der libanesischen »Hizb Allah«
Antisemitische Auffassungen findet man nicht nur bei den sunnitsch, sondern auch bei den schiitisch geprägten islamistischen Organisationen wie der libanesischen »Hizb Allah«. In Bezug auf Israel vertritt man eine rigorose antizionistische Position. Wie viele islamistische Organisationen in der Region bestreitet »Hizb Allah« grundsätzlich Israels Existenzrecht. Dabei geht der entfaltete Diskurs zwar nicht immer so deutlich wie bei der »Hamas«, aber häufig genug mit antisemitischen Auffassungen im Sinne eines Hasses auf alle Juden einher. In der Agitation führender Funktionäre und in den Publikationsorganen lässt sich ebenfalls eine Verkopplung von Anspielungen auf historische Ereignisse im Zusammenhang mit Mohammeds Konflikten mit den Juden und der gegenwärtigen Situation im Nahost-Konflikt ausmachen: Mit Rekursen auf den Koran werden Juden als hinterhältige und gefährliche Gegner des Islam dargestellt. Zusammen mit den Freimaurern hätten die Juden sich zu Weltverschwörern entwickelt und trügen die Schuld an vielen Übeln.
Antisemitismus in den Erklärungen der »Al-Qaida«-Führung
Auch bei den individuellen Einstellungen und im öffentlichen Diskurs von transnational agierenden islamistischen Terroristen lassen sich antisemitische Positionen ausmachen. Exemplarisch dafür stehen schon frühe Erklärungen von Osama Bin Laden wie etwa ein Brief an einen Rechtsgelehrten von 1994. Darin kritisierte er dessen Plädoyer für einen Friedensschluss mit den Juden, denn der jüdische Feind sei der Verderber des Islam und der Welt. Und in einer Videobotschaft von 2001 sprach Bin Laden davon, es gebe eine lange Kette der jüdischen Verschwörung mit dem Ziel eines Vernichtungskriegs gegen den Islam. Auch bei den Todespiloten des 11. September 2001 kursierten derartige Auffassungen, wofür Dokumente und Zeugenbefragungen zu Mohammed Atta sprechen: Demnach ging er davon aus, dass die Juden als reiche Strippenzieher hinter den Kriegen der USA auf dem Balkan und am Golf stünden. Das Zentrum des Weltjudentums sei New York. Von dort aus müsse der Befreiungskrieg für die Errichtung eines islamischen Gottesstaat beginnen.
Antisemitische Aussagen im Diskurs des »Islamischen Staats«
Antisemitische Aussagen fanden sich auch beim »Islamischen Staat« (IS), der zunächst eine Abspaltung von »al-Qaida« war und dann unter seiner eigentlichen Bezeichnung aktiv wurde. Die besondere Brutalität bei den Handlungen wie die Herrschaft über einige Regionen bildeten dessen Spezifika. Bekanntlich mündete sein Agieren in der Ausrufung eines »Kalifats«, womit ein beim IS namensgebendes Modell praktisch umgesetzt wurde. Gleichwohl währte diese formale Herrschaft nicht lange, kam es doch bald zu seiner militärischen Zerschlagung. Die Einstellung zu den Juden bzw. zu Israel war nie ein herausragendes Thema. Indessen fanden sich im Diskurs des IS sehr wohl antisemitische Positionierungen. So wurde etwa in »Dabiq«, einem auch englischsprachigen IS-Online-Magazin, auf einen Hadith-Text angespielt. Demnach sollten Juden bekämpft und getötet werden. Die gleiche Aussage findet man auch in der Gründungscharta der Hamas, womit sich ein Einklang der Forderungen und Positionierungen ergibt. In beiden Fällen erfuhr die eliminatorische Judenfeindschaft eine religiöse Legitimation.
Antisemitismus als Staatsideologie in der Islamischen Republik Iran
Und schließlich soll als Beispiel für den islamistischen Antisemitismus noch seine Bedeutung als Staatsideologie anhand eines Regimes dieser politischen Ausrichtung aufgezeigt werden: der Islamischen Republik Iran. Bereits deren Begründer Ayatollah Khomeini bezeichnete nicht nur Israel als »kleinen Satan«, er formulierte auch offen eine antizionistische Position, rief er doch zur Zerschlagung des Staates auf. Israel galt ihm als »Feind des Islam« und »Feind der Menschheit«. Darüber hinaus bediente sich der offizielle politische Diskurs ebenso der bekannten antisemitischen Stereotype wie etwa der von den »jüdischen Verschwörungen«. Selbst die »Protokolle der Weisen von Zion« fanden über staatliche Stellen Verbreitung. Der frühere Präsident Mahmud Ahmadinejad propagiert ähnliche Auffassungen. Bereits kurz nach seiner Wahl forderte er 2005 öffentlich die Vernichtung des Staates Israel und 2006 leugnete er öffentlich die Massenvernichtung von Juden im Zweiten Weltkrieg. In Teheran fand gar eine »Holocaust-Konferenz« unter Beteiligung rechtsextremistischer Referenten statt.
Antisemitismus als Mobilisierungsfaktor für Muslime
Der Antisemitismus von Islamisten ist nicht nur auf die erwähnten Organisationen beschränkt, was ein Blick auf einschlägige repräsentative Umfragen veranschaulicht. Demnach bestehen hohe antisemitische Einstellungspotentiale unter in westlichen Ländern lebenden Muslimen. Deren Anteil ist zwischen zwei- bis vierfach höher als in der jeweiligen Gesamtgesellschaft. Da diese Erkenntnis sich durch eine Fülle von entsprechenden Studien hindurchzieht, handelt es sich nicht nur um eine bloße Feststellung für einzelne Länder oder unterschiedliche Zusammenhänge. Grob spricht die sozialwissenschaftliche Forschung hier von zwischen 30 und 50 Prozent. Dementsprechend gehören antisemitische Einstellungen häufig zur Norm im jeweiligen innermuslimischen sozialen Umfeld. Eine auffällige Besonderheit der gemeinten Personen besteht außerdem darin, dass für sie das Ausmaß und die Bedeutung islamischer Identität besonders hoch sind. Damit gibt es für islamistische Agitation mit dem Antisemitismus ein bedeutendes Mobilisierungspotential unter Muslimen, es kann zur Radikalisierung und Rekrutierung im extremistischen Sinne genutzt werden.
Auch in Deutschland kann man antisemitische Einstellungen bei den Muslimen überdurchschnittlich stark ausmachen. Eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung bezogen auf die Gesamtbevölkerung erstellte Studie ermittelte dazu entsprechende Unterschiede: Im Bevölkerungsdurchschnitt meinten vier Prozent, dass Juden hinterhältig seien: Unter Muslimen waren es zwölf Prozent. Die eigentlichen politischen Herrscher seien Juden meinten unter Muslimen 26 Prozent, im Durchschnitt waren es vier Prozent. Gegen die Existenz von Israel sprachen sich von den Muslimen 16 Prozent aus, beim Bevölkerungsdurchschnitt waren es vier Prozent. Und auch bei der Akzeptanz von Gewalt, gemessen mit dem Einstellungsstatement: »Juden müssen sich nicht wundern, wenn sie einen drauf bekommen«, lassen sich eindeutige Unterschiede erkennen: im Durchschnitt zwei Prozent, bei den Muslimen sieben Prozent mit jeweiliger Zustimmung. Die Anteile liegen somit gegenüber der Gesamtbevölkerung bei den Muslimen drei- bis sechsmal höher. Und nur eines der genannten Einstellungsstatements hat etwas mit Israel zu tun.
Islamistischer Antisemitismus als Gefährdung für Juden
Dafür sprechen kontinuierlich Fälle von islamistisch motivierter Gewalt, die nach einer Eskalation im Nahost-Konflikt auszumachen ist. Idealtypisch lassen sich zwei Handlungsformen bzw. Tätergruppen unterscheiden: Es können Angehörige islamistischer Gruppen sein, die in deren Auftrag geplant derartige Anschläge durchführen. Es können aber auch eigenständige Akteure ohne Organisationszugehörigkeit sein, die aus einer Alltagssituation heraus entsprechende Gewalttaten begehen. Dabei ergibt sich der antisemitische Hintergrund durch den gewählten Ort. Meist sind davon jüdische Gemeindezentren oder Synagogen betroffen, die aber gar keinen direkten Bezug zum israelischen Staat haben müssen. Gleichwohl erfolgt durch das gewalttätige Agieren eine Identifizierung des fernen Israel mit den hiesigen Juden. Unabhängig von einem subjektiven Bewusstsein wird durch solche Handlungen objektiv eine antisemitische Zielsetzung verfolgt. Denn die in Deutschland lebenden Juden können nichts für die Politik des israelischen Staates, trotzdem sind sie entsprechenden Gefährdungen auch von Islamisten ausgesetzt.
Islamistische Anschläge auf jüdische Einrichtungen
Dafür stehen auch immer wieder islamistische Anschläge auf jüdische Einrichtungen aus der jüngeren Geschichte: Bereits kurz nach den Angriffen der Hamas auf Israel kam es noch im Oktober 2023 zu einem Vorfall, wobei in Berlin ein Brandanschlag auf eine Synagoge von unbekannten Tätern verübt wurde. Deren genauer ideologischer Hintergrund ist insofern nicht bekannt, gleichwohl offenbart sich hier der postulierte Zusammenhang: Zufällig ausgewählte Juden werden pauschal für Israels Vorgehensweise verantwortlich gemacht. Es können von derartigen Angriffen auch private Einrichtungen wie etwa Supermärkte für koschere Waren betroffen sein. Ein Anhänger des »Islamischen Staates« tötete etwa 2015 vier Juden an einem solchen Ort in Paris. Dass es auch derartige Gewalthandlungen in vom Nahen Osten weit entfernten Orten geben kann, veranschaulicht ein Anschlag in Buenos Aires von 1994. Betroffen davon war dort ein zentrales Gemeindezentrum, wobei 85 Menschen getötet und gegen 300 verletzt wurden. Der Angriff wurde einem libanesischen Islamisten zugerechnet, er soll mit der »Hizb Allah« in einem engen Kontakt gestanden haben.
Antisemitische Dimension des Hamas-Massakers von 2023
Auch das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. 1200 Menschen wurden ermordet, wovon der überwiegende Anteil jüdische Israelis waren. Die Führung der Hamas hatte das Massaker systematisch vorbereitet, die brutalen Morde, Schändungen und Vergewaltigungen wurden soar gefilmt. Erkennbar kann von einer genozidalen Dimension gesprochen werden, sollten doch aufgrund ihrer israelischen bzw. jüdischen Identität all diese Menschen sterben. Bereits in der Gründungscharta der Hamas fand sich ein auch in diesem Sinne ausgerichteter Tötungsaufruf, der zwar in der zweiten Charta von 2017 nicht mehr enthalten war. Gleichwohl bekundete man dort ein vom Fluss bis zum Meer reichendes Palästina anzustreben, was auf die nur gewaltsam vorstellbare Auflösung des jüdischen Staates durch existenzielle Vernichtung hinauslaufen würde. Einem islamistischen Antisemitismus entspricht auch diese ideologische Grundforderung, aber noch mehr die mörderische Praxis. Sie machte außerdem deutlich, dass die in der zweiten Charta anklingende Mäßigung eher für eine Täuschungsabsicht stand.
Wie lassen sich zusammenfassend betrachtet die inhaltlichen Kernpositionen des islamistischen Antisemitismus bestimmen und einschätzen? Hauptsächlich artikuliert er sich in seiner antizionistischen Form, also über die grundlegende Ablehnung des Existenzrechts Israels und der dabei erhobenen Forderung nach Auflösung des Staates. Palästina soll ein rein muslimisch dominiertes Gebiet der islamischen Welt sein. Dabei bezieht sich der öffentliche Diskurs der Islamisten auf einen realen politischen Konflikt, welcher seit Jahrzehnten um die politische Kontrolle über eine bestimmte geographische Region in blutiger Weise geführt wird. Dessen Deutung erfolgt mit Bezug auf Argumentationsmuster, die als externe Bedingungsfaktoren aus europäischen Ländern und als interne Bedingungsfaktoren aus der islamischen Welt stammen. Die dabei deutlich werdende Funktionalisierung dieser Argumentationsmuster im Kontext des Nahostkonflikts spricht nicht gegen das Vorhandensein des Antisemitismus, veranschaulichen die erwähnten Auffassungen doch nicht nur eine Ablehnung von Israel, sondern auch einen Hass gegen alle Juden.
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Quellen und Literaturverzeichnis
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Webman, Esther: Die Rhetorik der Hisbollah: Die Weiterführung eines antisemitischen Diskurses, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 12, Berlin 2003, S. 39-55.
Wistrich, Robert S.: Antisemitism. The Longest Hatred, London 1991.
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Vorliegender Text von Armin Pfahl-Traughber erschien am 20. November dieses Jahres auf der Webseite (bit.ly/F198AS) der Bundeszentrale für politische Bildung unter der Creative Commons Lizenz »CC BY-NC-ND 3.0 DE«. Es handelt sich dabei um eine nach dem 7. Oktober vom Autor aktualisierte und überarbeitete Fassung des urprünglichen Textes vom Juli 2011. bpb.de
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Essay, Fazit 198 (Dezember 2023), Foto: Hans-Albert-Institut
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