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Wirtschaftsdemokratie. Eine (Heraus-)Forderung unserer Zeit

| 27. Mai 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 113

Foto: Karl-Franzens-Universität/KastrunEin Essay von Bernhard Ungericht. Über die Notwendigkeit mehr demokratischer Strukturen für unser Wirtschaftssystem.

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Mag. Dr. Bernhard Ungericht wurde 1965 in Bludenz geboren. Er ist wissenschaftlicher Leiter der Forschungsgruppe »Gesellschaft und Unternehmen« sowie Verantwortlicher für die »SBWL Wirtschaftsethik und betriebliches Verantwortungsmanagement« an der Karl-Franzens-Universität Graz. Seit 2002 ist er außerdem Professor am Institut für
Internationales Management. 2014 war er Mitbegründer des »Impulszentrum Zukunftsfähiges Wirtschaften«. imzuwi.org

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Wir lehnen mehrheitlich ein politisches System ab, in dem diejenigen, welche die Entscheidungen treffen, keinerlei Rechenschaftspflicht gegenüber der betroffenen Bevölkerung haben. Diktatur, Autokratie, Expertokratie, Aristokratie, Plutokratie sind nicht vereinbar mit einem demokratischen Gemeinwesen. Aber wie ist das in der Wirtschaft? Die Wirtschaft prägt heute unser aller Leben in enormer Weise und beeinflusst maßgeblich die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen. Macht dennoch »das Gold die Regeln«? Und nicht wir – die Betroffenen?

Die halbierte Demokratie

In der Demokratietheorie unterscheidet man zwei Konzepte von Demokratie: die politische Demokratie und die gesellschaftliche/soziale Demokratie. Die politische Demokratie ist das ältere und weniger tief gehende Konzept von Demokratie: Sie betrachtet Demokratie als Vorhandensein formaler demokratischer Prozesse und Strukturen, wie Wahlen und Parlamente. Diese Form der Demokratie ist heute in den meisten Ländern verwirklicht, sogar in einigen Religionsgemeinschaften. Ein jüngeres und starkes Demokratieverständnis betrachtet Demokratie als gesellschaftliche oder soziale Demokratie. Demokratie wird hier als Zustand der Gesellschaft verstanden. Es geht dabei um die umfassende Verwirklichung des demokratischen Gedankens, d. h. die Ausdehnung des Demokratieprinzips auf möglichst alle gesellschaftlichen Bereiche und Institutionen: z. B. die Arbeitswelt, den Bildungsbereich, das Gesundheitswesen, die Landesverteidigung und auch die Wirtschaft. Wirtschaftsdemokratie ist also die Ausdehnung des Demokratieprinzips auf die Wirtschaft. Wirtschaftsdemokratie soll (1.) eine Mitsprache der Betroffenen von wirtschaftlichen Entscheidungen sicherstellen und (2.) verhindern, dass sich eine Gruppe von mächtigen Wirtschaftsakteuren auf Kosten aller anderen oder zukünftiger Generationen bereichern kann.

Wirtschaftsdemokratie bezieht sich auf zwei Bereiche: zum einen auf die Gestaltung der wirtschaftlichen Rahmenordnung und zum anderen auf (große) Unternehmen. Im Bereich der Unternehmensdemokratie geht es um Mitspracherechte der Beschäftigten bzw. von Gruppen, die vom Unternehmenshandeln stark betroffen sind. Im Bereich der Rahmenordnung werden Regeln für die Wirtschaft als Ganzes festgelegt. Hier wird damit argumentiert, dass die Wirtschaft Teil der Verfassung eines demokratischen Gemeinwesens ist und deshalb die Regeln für die Wirtschaft selbst Teil demokratischer Politik sein müssen.

Die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie war historisch immer als eine Alternative zur gängigen kapitalistischen Marktökonomie, aber auch zur sozialistischen, zentralen Planwirtschaft der Vergangenheit gedacht.

Die Lehren der Vergangenheit. Wirtschaftsdemokratie als
Vorbeugung gegen einen Rückfall in die Barbarei

Nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Zweiten Weltkrieg war Wirtschaftsdemokratie eine zentrale Forderung. Die Losung war: »Nie wieder Krieg«, »Nie wieder eine derartige Barbarei«. Als geeignetstes Mittel der Prävention erschien die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und Wirtschaftsdemokratie wurde als notwendige Ergänzung der politischen/parlamentarischen Demokratie betrachtet.
In den 30er Jahren legte Fritz Naphtali – ein deutscher Kaufmann, Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und – erstaunlicherweise – gleichzeitig Leiter der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes – einen umfassenden Entwurf einer Wirtschaftsdemokratie vor. Dieser enthielt: die Kontrolle von Monopolen und Kartellen, Betriebsdemokratie und Mitbestimmungsgesetze, Aufbau öffentlicher Unternehmen und Förderung einer Gemeinwirtschaft/Genossenschaften sowie wirtschaftliche Selbstverwaltung v. a. der Sozialversicherungen. Mit der Machtübernahme der Nazis war natürlich keine Rede mehr davon.

Nach dem zweiten Weltkrieg, nach der zivilisatorischen Katastrophe, hatten die Vertreter aller politischen Richtungen einen recht klaren Blick: Nie wieder sollte es den wirtschaftlich Mächtigen möglich sein, sich der demokratischen Kontrolle komplett zu entziehen und ihre Macht politisch zu missbrauchen. Im Gründungspapier des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1949 wird auf diesen Aspekt Bezug genommen: »Die Erfahrungen der Jahre 1918 bis 1933 haben gelehrt, dass die formale politische Demokratie nicht ausreicht, eine demokratische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Die Demokratisierung des politischen Lebens muss deshalb durch die Demokratisierung der Wirtschaft ergänzt werden.«

Sogar im Ahlener Programm der CDU – also einer bürgerlich-konservativen Partei – vom Februar 1947 ist zu lesen: »… eine Neuordnung muss von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.« Beispielhaft dafür ist auch eine Rede des CDU-Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, aus dem Jahr 1948: »Durch eine maßgebliche Beteiligung der Arbeitnehmer an der Betriebs- und Wirtschaftsführung soll die soziale Gleichberechtigung hergestellt, der Mensch ganz allgemein wieder in den Mittelpunkt der Wirtschaft gestellt und der Arbeit wieder ein tiefer Sinn und eine höhere Würde verliehen werden.« … »Bei einer Formaldemokratie in der Politik – und beim Vorhandensein eines Absolutismus in der Wirtschaft kann niemals eine Grundlage für eine sinnvolle Neuordnung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gefunden werden.«
Demokratie – vor allem im Bereich der Wirtschaft – wurde als Schutz vor Radikalisierung, als Schutz vor Krieg und Barbarei und als geeignetstes Mittel für den Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft verstanden.

Die Herausforderungen der Gegenwart. Krise des demokratischen
Staates und die Gefahr des autoritären Kapitalismus

Die Ausschaltung demokratischer Kontrolle und die Aushöhlung demokratischer Institutionen durch wirtschaftlich mächtige Akteure sind aber auch heute eine reale Gefahr: Der Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Wolfgang Streeck, konstatiert gegenwärtig »eine Krise des demokratischen Staates« und die Gefahr eines »autoritären Kapitalismus«. Es herrsche eine Machtasymmetrie zwischen dem Kapital und demokratischer Politik. Streeck spricht vom »Drama demokratischer Staaten, die in Inkassoagenturen im Auftrag einer globalen Oligarchie von Investoren verwandelt werden«. Es gibt weitere Zeichen einer Entdemokratisierung: Wenn zunehmend das Bild des Unternehmens auf den Staat übertragen wird, so wird mit diesem Leitbild das Selbstverständnis und der Zweck des demokratischen Gemeinwesens verändert. Anstelle des demokratischen Staates als Garant des Gemeinwohls tritt der Wettbewerbsstaat, der in erster Linie die Kapitalrentabilität sichern soll – auch zulasten der Mehrheit der Bevölkerung. Entdemokratisierung geschieht auch dort, wo Politiker in vorauseilendem Gehorsam gegenüber Spekulanten »Rücksicht auf die Märkte« nehmen, oder wenn in internationalen Wirtschaftsabkommen (aktuell TTIP) demokratisch nicht legitimierte Akteure in ihrem Interesse Regeln für Staaten festschreiben, welche auch nicht durch demokratische Volksentscheide wieder rückgängig gemacht werden können. Dem neuen Souverän – etwas verschämt »die Märkte« genannt – verspricht zum Beispiel die deutsche Bundeskanzlerin in einer Erklärung im Jahr 2011, dafür zu sorgen, dass die parlamentarischen Beschlüsse »trotzdem auch marktkonform« ausfallen werden«.
Das ist Selbstzensur einer demokratischen Gesellschaft und das ist ein Zustand politischer Würdelosigkeit

Da kann die Politik auch gleich an ein Computerprogramm delegiert werden. Im amerikanischen Kongress gab es tatsächlich bereits einen Vorstoß, die Zins- und Geldpolitik von einem nach bestimmten Kriterien programmierten Computer steuern zu lassen. Nur: Wer programmiert den Computer? Welche Interessen werden die Parameter und die Algorithmen abbilden und exekutieren? Auf jeden Fall ist das das Ende von demokratischer Wirtschaftspolitik. Computerprogramme und Algorithmen sind frei von Debatten über gesellschaftliche Ziele.

Wolfgang Streeck sieht die Gefahr eines autoritären Kapitalismus, der Philosoph Slavoj Zizek sieht den autoritär geführte Kapitalismus gar als Gewinner der Krise ab 2008 und heute als die größte Gefahr für Demokratie und Menschenrechte. Nicht mehr Demokratie plus soziale Marktwirtschaft gelte als Erfolgsmodell, sondern autoritäre Regierung plus Kapitalismus. Singapurs ehemaliger Premier Lee Kuan Yew begründete den sogenannten »Kapitalismus mit asiatischen Werten«. Chinas Deng Xiaoping pries das Konzept ausdrücklich als Vorbild, dem China folgen solle. Dieses Modell des autoritären Kapitalismus – so Zizek – dringe mit der Krise immer weiter Richtung Westen vor. Das mag manchen doch übertrieben erscheinen, aber wer hätte es noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten, dass in einer österreichischen liberalen Qualitätszeitung Sätze stehen wie: »Eurokrise führt zur Ausschaltung von Kontrolle und Mitbestimmung der Bürger« (Der Standard, 10. August 2012); »Portugal auch politisch unter Kuratel« … »Wer immer das Land nach den Wahlen im Juni regieren wird, er wird politisch praktisch keinerlei Handlungsspielraum haben.« (Der Standard, 10.4.2011) »es verliert ab sofort seine wirtschaftliche und politische Souveränität«, »Pensionen, Arbeitsgesetze bis hin zu den Löhnen, nötige Privatisierungen – alles kommt auf den Prüfstand. Und die Union ruft nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition auf, sich schon jetzt zur Umsetzung dieser Reformen aus Blut, Schweiß und Tränen zu verpflichten.« (Der Standard, 10.4.2011)
In Portugal liegt der Mindestlohn heute bei 589 Euro – ein Salär, das, wie der Europarat festgestellt hat, – »keineswegs ein würdevolles Leben garantiert«.

In einer aufgeklärten Gesellschaft ist es nicht die Frage »Wie viel Demokratie verträgt die Wirtschaft?«, sondern: »Welche Art von Wirtschaft ist einer demokratischen Gesellschaft angemessen?«

Eine zivilisierte Bewältigung der Transformationsherausforderungen
unserer Gesellschaften braucht Demokratie.

Wirtschaftsdemokratie ist auch hinsichtlich der großen Zukunftsfragen relevant: Wir sind mitten in einem ungeheuren gesellschaftlichen Transformationsprozess. Das Wachstumsmodell der letzten 60 Jahre ist in der Krise. Wachstum wird aus vielen Gründen nicht mehr möglich sein. Der wichtigste Grund: die Endlichkeit von Ressourcen, vor allem von fossilen Energieträgern, auf denen unser Wachstumsmodell aufgebaut ist. Aber auch die ökologische Tragfähigkeit dieses Modells gerät an seine Grenzen. Wohlstand ohne Wachstum ist eine inhärent demokratische Frage. Wir werden beantworten müssen: Wie viel müssen wir überhaupt produzieren? Welche Produkte brauchen wir? Wie und wo werden diese Produkte erzeugt und wie werden sie verteilt? Ein zweiter Treiber gesellschaftlichen Wandels sind soziale Umbrüche: Der Soziologe Randell Collins beschreibt das »Ende der Mittelschicht« aufgrund einer tiefen Strukturkrise durch technologische Arbeitslosigkeit. Im jüngsten Technologieschub – der Informationstechnologie – geht die von der Mittelschicht verrichtete Kommunikationsarbeit verloren. Bis zu zwei Drittel der gebildeten Mittelschichten in der westlichen Welt könnten in den nächsten Jahrzehnten strukturell arbeitslos werden. Die Automation durch Onlineshopping, SB-Kassen, Onlinenachrichten oder die beginnende Konkurrenz mit gutausgebildeten Telearbeitskräften in Indien sind nur die ersten Vorboten eines enormen Strukturwandels. Und bereits heute haben wir in einigen Ländern eine dramatische Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent.

Angesichts von Ressourcengrenzen, ökologischen Grenzen, sozialen Herausforderungen und ganzen Bevölkerungsgruppen, die für die Kapitalverwertung überflüssig werden, ist eines klar: Die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Unternehmen von morgen werden ganz andere sein müssen als die heutigen. Und: Zivilisiert werden diese Veränderungen nur dann ablaufen, wenn sie wirklich demokratisch legitimiert sind, wenn Menschen mitreden können, ihre Bedürfnisse artikulieren und geeignete Arrangements mitgestalten können.

Die Alternative zur Demokratie ist die Herrschaft einer kleinen Elite, die die Lebensbedingungen der Mehrheit drastisch verschlechtert, um den eigenen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Wir sind an einer historischen Scheidelinie. Die Frage heute ist: Welche Art von Gesellschaft wollen wir morgen sein? Wenn das eine zivilisierte Gesellschaft sein soll, dann brauchen wir eine gehaltvolle Demokratie, die über das liberal-demokratische Verständnis, über periodische Wahlen alle vier oder fünf Jahre und medial inszenierte Parteienkonkurrenz hinausgeht.

Gehaltvolle Demokratie heißt, dass die entscheidenden Fragen zu demokratischen Angelegenheiten gemacht werden: Wie schaffen wir sinnvolle und sinnstiftende Arbeit? Wie verteilen wir die Arbeit und die Früchte der Arbeit gerecht? Wie sichern wir die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen? Wie schaffen wir den zivilisierten Ausstieg aus dem Ressourcenverschwendungsmodell? Wir müssen also wirtschaftliche Rahmensetzung und große Unternehmen als Teil demokratischer Politik begreifen. Dabei müssen wir nicht alles neu erfinden.

Es gibt genügend Beispiele und Vorschläge für
die Demokratisierung der Wirtschaft

Das bekannteste Beispiel auf Unternehmensebene sind die Mondragon-Genossenschaften im spanischen Baskenland. MCC (Mondragon Corporacion Cooperativa) ist heute das siebtgrößte Unternehmen Spaniens und gilt als das weltweit erfolgreichste genossenschaftliche Unternehmen. Zu MCC gehören circa 100 Genossenschaften mit ungefähr 120 Tochterunternehmen, die 14 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaften. Von den knapp 80.000 Beschäftigten arbeiten 63.000 in Spanien (davon 31.000 im Baskenland) und etwa 80 Prozent sind Genossenschaftsmitglieder – also EigentümerInnen der Unternehmen.

Trotz seiner Größe wird Mondragon als demokratisches Unternehmen bezeichnet. Die Beschäftigten sind zu gleichen Teilen am Grundkapital und den Gewinnen der Genossenschaft beteiligt und in die Entscheidungen des Führungspersonals durch demokratische Abstimmungsprozesse eingebunden. Die maximale Lohnspreizung zwischen Top-Management und Beschäftigten darf nicht mehr als eins zu acht betragen. Das oberste Organ der einzelnen Genossenschaften bildet die Generalversammlung der Mitglieder. Von ihr wird der Vorstand gewählt, der über die Besetzung der leitenden Positionen im Unternehmen entscheidet, aber den Vorgaben der Generalversammlung unterliegt. Ein Sozialrat nimmt zusätzlich die Interessen der GenossInnen als Arbeitende wahr. Auf der Ebene der Dachorganisation MCC bilden 650 VertreterInnen der einzelnen Genossenschaften ein »Parlament« dieses ist das oberste Vertretungs- und Entscheidungsorgan der genossenschaftlichen Unternehmensgruppe von Mondragon. Wirtschaftlich wie gesellschaftlich ist MCC ein Erfolgsmodell: Laut Studien der Weltbank sind die MCC-Genossenschaften nicht nur die Unternehmen in Spanien mit der höchsten Produktivität, sie haben Krisen besser gemeistert als andere Unternehmensformen, Neugründungen waren deutlich erfolgreicher, da sie auf ein solidarisches Netzwerk bauen konnten.

Die Region um Mondragon hat den höchsten Lebensstandard und -zufriedenheit weltweit und eine der egalitärsten Einkommensverteilung, die Arbeitslosigkeit beträgt nie mehr als ein Drittel der in Spanien üblichen, 5 Prozent der Gewinne gehen in Form von Sozial- und Kulturprojekten an die Gesellschaft zurück. Kaum wo gibt es so viel zivilgesellschaftliches, ehrenamtliches Engagement. Jedes Kind weiß, was eine Genossenschaft ist, dass Probleme und gemeinsame Aufgaben am besten durch demokratische Prozesse gelöst werden und dass Kooperation und Solidarität geeignetere gesellschaftliche Prinzipien sind als Wettbewerb und Egoismus.

Warum ist Mondragon so interessant? Mondragon regt die Phantasie an. Mondragon zeigt uns, dass wir Wirtschaft viel lebensfreundlicher und kreativer gestalten können, als uns die Sachzwangrhetorik und die dominante Wirtschaftsideologie weiszumachen versuchen. Mondragon ist eine real existierende Alternative – und das seit 60 Jahren – und stellt damit die herrschende Logik in Frage. There are alternatives! Und Mondragon erinnert daran, dass die Ökonomie eine dienende gesellschaftliche Funktion hat.

Ein anderes Beispiel sind die von Mondragon inspirierten Genossenschaften in der US-Stadt Cleveland: 2009 wurde zehn Unternehmen gegründet, die im Gemeinbesitz von Beschäftigten, örtlichen Kunden, Bewohnern und der Gemeinde sind und zum gemeinsamen Nutzen geführt werden. Dazu gehören heute unter anderem das größte Gewächshaus des Bundesstaates zur Gemüseproduktion, eine Wäscherei für die Krankenhäuser, eine Solarpaneelfabrik. Das sind demokratische Innovationen auf Gemeindeebene: im Mittelpunkt stehen die Befriedigung lokaler Bedürfnisse, die Schaffung von sinnvollen Jobs und die vertiefte Demokratisierung der Gesellschaft.

Das ist auch in Österreich möglich. Erste Ansätze, auf denen wir aufbauen können, sind schon vorhanden, z. B. die Idee der Solidarregion Weiz. Öffentliche Hand, Sozialpartner, Universitäten könnten den Aufbau einer demokratischen, krisenresilienten, lokalen Wirtschaft fördern, indem sie günstige Rahmenbedingungen schaffen (z. B. Bevorzugung bei der öffentlichen Beschaffung, bei Kreditvergabe, bei Steuern) und Know-how bereitstellen. Dazu braucht es nur den Willen zu einer demokratischen Gesellschaft. In einer demokratischen Gesellschaft könnten wir aber auch die Rahmenordnung verändern: Große Unternehmen haben enorme gesellschaftliche Auswirkungen – sie sind damit immer quasi-öffentliche und nicht rein private Institutionen. Sie müssen also an das öffentliche Wohl und die Region angebunden werden.

In den 70er Jahren hat der Ökonom und Autor des auch heute noch augenöffnenden Buches »Small is beautifull«, Ernst Friedrich Schumacher, dazu einen Vorschlag gemacht: Er geht davon aus, dass ab einer bestimmten Größe (500 Personen) jedes Unternehmen sein persönliches und privates Wesen verliert und ein öffentliches Unternehmen wird. Das gesellschaftliche Ziel muss es nach Schumacher sein, große Firmen so eng wie möglich in ihre gesellschaftliche Umgebung zu integrieren und damit das öffentliche Wohl zu fördern. Nach Schumachers Vorschlag müssen Unternehmen ab einer bestimmten Größe Aktiengesellschaften sein. Für jede ausgegebene Aktie ist die gleiche Anzahl von neuen Aktien auszugeben und der öffentlichen Hand zu übergeben. Die Öffentlichkeit ist damit am Grundkapital beteiligt. An die Stelle von Gewinnsteuern tritt das Recht auf einen Anteil an den Gewinnen. Dies beseitige auch die Schieflage, dass Unternehmen zwar auf öffentlich finanzierte Infrastruktur (Bildungswesen, Transportsysteme, Kommunikationsinfrastruktur) zurückgreifen, aber die darauf aufbauenden Profite privatisieren. Diese öffentlichen Aktien werden von einem lokalen Gesellschaftsrat verwaltet, der sich aus Vertreterinnen örtlicher Gewerkschaften, örtlicher Berufs- und Unternehmensverbände und Ortsansässigen (wie Schöffen ausgewählt) zusammensetzt. Die Geschäftsführung bleibt in privater Hand, der Gesellschaftsrat hat kein Mitspracherecht, sondern nur ein Beobachtungs- und Informationsrecht. Nur wenn der Gesellschaftsrat zum Ergebnis kommt, dass das öffentliche Wohl ein Eingreifen in die gegenwärtige Geschäftsführung verlangt, kann er sich an ein besonderes Gericht werden, um eine Aktivierung des ruhenden Stimmrechts zu beantragen. Damit ist nach Schumacher eine Neuordnung des Eigentums großer Unternehmen ohne Revolution, ohne Enteignung, ohne Zentralisierung und bürokratische Schwerfälligkeit gewährleistet.

Unserer Phantasie zur gemeinsamen Gestaltung eines wirklich demokratischen Gemeinwesens sind keine Grenzen gesetzt. Neben der Ebene der Unternehmen haben wir noch die Ebene der rechtlichen Rahmenordnung. Warum nicht mehr direkte Demokratie im Bereich der Wirtschaft wagen?

Mit neuen Abstimmungsverfahren wie dem »Systemischen Konsensieren« könnten wir sehr leicht verantwortungsorientierte Leitplanken für das Wirtschaften demokratisch festlegen. In Österreich gab es eine Abstimmung über die Nutzung der Kernenergie. Man muss nicht Atomphysik studiert haben, um die Frage zu beantworten, ob man bereit ist, die Risiken der Kernenergie zu tragen. Genauso könnten wir auch darüber entscheiden, welche maximale Lohn- und Einkommensunterschiede gesellschaftlich tragbar sind; ob Banken Kredite für Finanzspekulationen, Nahrungsmittelspekulation vergeben dürfen; ob wir eine Politik der Steuerkooperation oder des Steuerwettbewerbs in Europa wollen; ob es Banken, die mit Steuergeldern gerettet wurden, weiterhin erlaubt sein soll, dass sie Filialen in Steueroasen unterhalten und mit Derivatenzeitbomben experimentieren. Laut EU-Kommission gehen allein in der EU jährlich eine Billion Euro durch Steuerbetrug verloren. Das übersteigt das gesamte EU-Budget um das Siebenfache.

Für die Mehrzahl von wirtschaftspolitischen Entscheidungen gilt, dass sie politisch-ethische Fragen sind, die von den Bürgerinnen – also den Betroffenen – entschieden werden können. Der Erfolg des Wirtschaftens sollte nicht an den Steigerungsraten der Profite Weniger gemessen werden oder an der Steigerung zukunftsbedrohender Wachstumsraten. Sondern daran, ob ein gutes Leben gelingt. Das inkludiert soziale Sicherheit, sinnstiftende Arbeit, demokratische Teilhabe an der Gestaltung einer zukunftsfähigen und lebenswerten Gesellschaft. Wenn wir bereit sind, die gesellschaftlichen Konsequenzen einer nicht-demokratischen Wirtschaft konsequent bis ins Letzte zu bedenken – dann erledigen sich die Thesen, warum Wirtschaft und Demokratie getrennte Bereiche sein sollen.

Ist die Forderung nach einer Demokratisierung utopisch?

Nein. Zumindest nicht utopischer als die Annahme, die gegenwärtigen (Finanz-)Profiteure oder die wundersame Wirkung unregulierter und nicht rechenschaftspflichtiger globaler Marktkräfte werden schon irgendwie alle Probleme in der Gegenwart und Zukunft lösen. Das Wahlrecht für Frauen war ein Meilenstein in der Entwicklung der Demokratie. Die Herausforderung einer Demokratisierung der Sphäre der Ökonomie erscheint uns heute vielleicht als ein ungleich größerer Schritt.

Aber vor 200 Jahren erschien auch das Frauenwahlrecht utopisch. Im Absolutismus konnte man nicht auf eine parlamentarische Demokratien als Alternative zum Absolutismus hinweisen. Bedeutete das, dass eine Alternative zu Königen und Fürsten nicht möglich ist? Nein – es bedeutet nur, dass man eine Alternative schaffen muss. Globale Finanzflüsse können genauso durch politische Entscheidungen gezähmt werden, wie sie durch politische Entscheidungen möglich gemacht wurden. Unternehmen können gesellschaftsdienlich und zukunftsfähig ausgerichtet werden. Verfassungen können geändert werden. Regionen und Gemeinden können den Aufbau einer demokratischen und an lokalen Bedürfnissen orientierten Wirtschaft unterstützen. Es gibt genügend konkrete Beispiele und Vorschläge, wie eine Demokratisierung aussehen könnte. Und unserer Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Theodor Adorno hat einmal geschrieben: »Die Aufgabe besteht darin, sich weder von der Macht der Anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen.« Und letztlich geht es um unser Selbstverständnis: Wollen wir als Individuen Mit-Gestalter sein oder bloße Anhängsel eines ökonomischen Verwertungsprozesses? Und welche Art von Gesellschaft wollen wir?

Essay, Fazit 113, (Juni  2015) – Foto: Karl-Franzens-Universität/Kastrun

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