Anzeige
FazitOnline

Alles Samen

| 22. Dezember 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 119, Fazitportrait

Foto: Marija Kanizaj

Vor vier Jahren hat das Geschwisterpaar Gabi Medan und Fritz Zemann den Laden »Zum Schwarzen Rettig« vis-à-vis vom Grazer Kunsthaus übernommen und renoviert. Deshalb ist das historische Geschäftslokal aus dem 18. Jahrhundert heute keine Tätowierstube, sondern noch immer eine Samenhandlung, eine von zweien in ganz Österreich.

::: Hier können Sie den Text online im Printlayout lesen: LINK

Das Paradies soll ein Garten gewesen sein. Naturgemäß mit Pflanzen. Und woher kamen die Pflanzen. Aus den Samen. Und woher kamen die Samen? Urknall oder höhere Macht? Keine Angst, es soll nicht um Wissenschaft oder Religion gehen. Außer Physikern und Gläubigen gibt es noch andere Welt- und Weltenerklärer, etwa aus den Reihen der Schmiede: Helmut Schmidt (angeblich erklärt er jetzt ja Gott die Welt), Harald Schmidt (Kult-Talker, nunmehr Tatort-Kriminaloberrat), Sigrid Schmiedt (meine Volksschullehrerin) oder Helga Schmidt (meine erste Freundin). Alle aber, so sei unterstellt, können sich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen: Im Anfang war die Samenhandlung. Da können Genesis (»Himmel und Erde«), Johannesevangelium (»Wort«) und Faust (»Tat«) noch so anders lauten. Aber – es gibt keine Samenhandlungen mehr. Außer die eine, die letzte, am Südtiroler Platz in Graz, neben dem Kunsthaus, die dafür zwei Namen hat: Samenhandlung Köller »Zum schwarzen Rettig«.

Samen statt Devotionalien
Schon die Fassade des Geschäfts aus dem Jahr 1773 ist wie aus einer anderen, vergangenen Welt voller erprobter Werte und Wertigkeiten, eine Wiege der Verlässlichkeit, ein Hort der Ruhe und Kontemplation. Kein Wunder, befand sich hier ursprünglich doch eine Devotionalienhandlung. Erst die geistlichen Kunden kreierten das neue Geschäftsfeld, wie Gabi Medan weiß: »Sie haben Samen aus ihren Klostergärten mitgebracht und im Laufe der Zeit hat sich daraus das Handelsgeschäft entwickelt.« Gemeinsam mit Bruder Fritz Zemann hat sie vor vier Jahren den Laden eher zufällig übernommen. Als Anrainerin und Obfrau des Vereins Stadtteilprojekt Annenviertel ist sie in der Entwicklung des Viertels aktiv – Projekt Annengrün mit Open Kitchen, Annentalk, Flohmarkt, Tischtennis im Volksgarten, www.annenviertel.at – und natürlich auch kommunikativ. So hörte sie im Zuge ihrer Aktivitäten von Citymanager Heimo Maieritsch, dass die vormalige Betreiberin der Samenhandlung, Rosa Gröller, auf der Suche nach einem Nachfolger war. Der einzige Mitinteressent wollte ein Tattoostudio einrichten, und obwohl nichts gegen dieses bestechende Gewerbe einzuwenden ist, waren letztlich alle froh, dass daraus nichts geworden ist. »Denn die einzige weitere reine Samenhandlung Österreichs befindet sich in Linz. Deshalb kommen unsere Kunden sogar aus Wien«, erläutert Gabi Medan.

Urban Gardening
Gärtnern liegt seit einigen Jahren gerade bei Stadtpflanzen schwer im Trend – auch wenn es heute »Urban Gardening« oder »Guerilla-Gärtnern« heißen mag – ist aber keineswegs nur auf Bobos und Hipster beschränkt. Der Wert von Samen ist in all seiner archaischen Dimension eigentlich allen bewusst. In kaufmännischer Hinsicht natürlich zuallererst der multinationalen Saatgutindustrie, die zum Teil versucht, Saatgut für sich zu vereinnahmen und über Lizenzgebühren oder mit Hybriden, die keine fortpflanzungsfähige Saat mehr hervorbringen, Abhängigkeiten zu schaffen. Hier geht es um Milliardenumsätze, beim »Schwarzen Rettig« hingegen bloß um Millionen. Allerdings Samenkörner, nicht Dollar. Im Grazer Geschäft wird das Saatgut natürlich gentechnikfrei, ungebeizt und neuerdings auch biologisch angeboten. Das ist auch der Unterschied zu anderen Bezugsquellen von Samen. Medan: »Samen gibt es ja zum Beispiel auch in Supermärkten für Gartenartikel, im Internet oder in Baumärkten, die mit ein Grund dafür sind, dass es keine Samenhandlungen mehr gibt.« Aber auch bei Samen kommt es auf die Qualität an. So ist es wichtig, dass der Samen frisch ist, damit er möglichst verlässlich aufgeht. Auch dafür steht Samen Köller. Das gilt sowohl für Blumensamen als auch jene für Kräuter und Gemüse. Letztlich zählen Vielfalt und Geschmack. »Probieren Sie unseren Feldsalat Louviers und Sie werden merken, dass der einfach besser schmeckt«, sagt die vormalige Textildesignerin überzeugend. Da es sich bei diesem landläufig als Vogerlsalat bekannten Gemüse nicht um Jungpflanzen, sondern um kleine Körnchen handelt, ist diese Recherche auch für ein Monatsmagazin zu langwierig. Erntezeit ist zwar immerhin schon acht Wochen nach der Aussaat, diese sollte aber zwischen Juli und September stattfinden, sodass erst im Herbst gekostet werden kann. Gärtner wissen das, alle wissen das. Eigentlich. Aber für die, die noch nie etwas gesät und geerntet haben, bleibt nur eine Ahnung, vielleicht eine Hoffnung, eher viele Fragezeichen.

Theorie und Praxis und Mut
Dabei braucht man nicht unbedingt gleich einen Garten. Eine Terrasse, ein Balkon, ein Fensterbrett tun es auch. Erdäpfel im Blumentopf, alles geht, offenbar nur eine Frage des Mutes. Der aber so groß auch wieder nicht sein muss. Wer einen Nagel mit dem Hammer in die Wand schlägt und den Nagel dabei selbst hält, braucht mehr Mut. Man kann entweder einfach loslegen oder sich zunächst Unterstützung in der Theorie holen. Für letztere Vorgangsweise gibt es eine Unzahl von Fach- und Sachbüchern, von denen wiederum eine erkleckliche Anzahl in der Samenhandlung Köller zur Auswahl steht. Erwähnt sei etwa die seit Jahrzehnten erprobte Perlen-Reihe, deren neuer Band 138 »Der grüne Daumen« das »1 x 1 für Balkon und Terrasse« näher erläutert und so humorvoll wie informativ durch das Gartenjahr begleitet. Laut Buchdeckel findet man Antworten auf Fragen wie »Was sind mehrjährige Pflanzen?«, »Wann ist die beste Zeit, um Samen auszusäen?« und »Was ist eigentlich ein kalter Fuß?«.

Gemeinschaftsgärten als Trend
Aber es geht auch ganz anders, nämlich in der Gemeinschaft. Das hat auch die Stadt Graz erkannt und bietet zur urbanen Begrünung eine Förderung für Gemeinschaftsgärten an, die einem nicht einmal unbedingt gehören müssen. Voraussetzung ist, dass die Fläche im Stadtgebiet ist und von mehreren Haushalten gemeinschaftlich und ehrenamtlich vorrangig als Gemüsenutzgarten bewirtschaftet wird sowie zumindest teilweise öffentlich zugänglich ist. Neben der Bewirtschaftung soll die Nutzung des Gartens gemeinschaftliche Aktivitäten umfassen, wie zum Beispiel interkulturelles Lernen, Förderung eines (generationenübergreifenden) Gemeinschaftslebens, umweltpädagogische Aktionen, Nutzung von Brachflächen und Ähnliches. Die Förderhöhe beträgt bis zu 800 Euro jährlich. Damit können Gartengeräte, gentechnikfreies Saatgut, standortgeeignete Pflanzen oder Bauteile für Hochbeete angeschafft, aber auch Pachtkosten finanziert werden.

Werkzeug aus Kupfer
Außer Samen bekommt man beim »Schwarzen Rettig« – übrigens nur eine alte Schreibweise für Rettich – auch Gartenwerkzeug. »Darauf sind wir ebenfalls besonders spezialisiert«, betont Hobbygärtner und -ornithologe Fritz Zemann. Der verwunschene Dachboden, der auch für Lesungen genutzt wird, legt davon Zeugnis ab: Hier findet man hochwertige Qualitätswerkzeuge aus Stahl, Edelstahl, aber auch Kupfer (gut für die Erde und pflegeleicht) – vom schweren Gerät bis zu Speziellem wie Pfahlwurzeljäter, Rasenkantenstecher oder Löwenzahnzieher. Eine Augenweide sind auch die in großer Auswahl vorhandenen Gießkannen, (fast) alle aus verzinktem, pulverbeschichtetem Stahlblech von nostalgischem Charme. Womit wir endlich dort sind, weshalb man herkommt; und für das lange Lesen belohnt wird: der Samen. Nein, es gibt keine Auflistung, es sind unzählige Samen, die zum größten Teil in den 150 alten, einfachen wie schönen Schubladen gelagert sind. Diese geben dem Geschäftslokal jenes Charisma, das jeden umfängt und betört, der eintritt. Diese Schubladen sind die Seele des Geschäfts. Sie haben es auch der besten Fotografin von allen leicht gemacht, wie an den Fotos zu sehen ist. Dabei waren sie bei der Übernahme durch das Geschwisterpaar vor vier Jahren gar nicht da, sondern am Dachboden abgelegt; genauso wie die gegenüberliegende Vertäfelung, die mit der erwähnten Außenfassade korrespondiert und damit im Inneren des Geschäfts das erfüllt, was es außen verspricht.

Zahlen und Fakten
Also Blumen-, Kräuter- und Gemüsesamen. Nein, alles gibt es nicht. Und ja, auch ein Affenbrotbaumsamen kann besorgt werden. Auf alte Sorten wird Wert gelegt, vor allem auf die Vielfalt des Saatguts von Nutzpflanzen. Dazu einige Zahlen: Es wird geschätzt, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts weltweit etwa 75 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Vielfalt verloren gegangen sind – das bedeutet weniger Widerstand gegen geänderte Umweltbedingungen wie Klimawandel, Krankheiten und Schädlinge. Und auch weniger Genuss und Geschmack. Nur etwa 100 von mehr als 4.800 bekannten Kulturpflanzenarten machen 90 Prozent der weltweiten Nahrungsmittelernte aus. Mehr als 50 Prozent des menschlichen Nahrungsbedarfs werden weltweit von nur drei Kulturarten gedeckt: Reis, Weizen und Mais. In den vergangenen 100 Jahren sind in den USA 95 Prozent der Kohlsorten, 91 Prozent der Maissorten, 94 Prozent der Erbsensorten und 81 Prozent der Tomatensorten verschwunden.

Weihnachtstipp des Jahres
Und dazu eine kleine Geschichte aus der Samenhandlung: »Zwei südamerikanische Kunden, die unabhängig voneinander da waren, einer aus Chile, einer aus Peru, also aus der Ursprungsheimat der Tomate, waren völlig aus dem Häuschen darüber, wie viele Tomatensorten wir in der Samenhandlung haben – sie haben nur zwei«, so Gabi Medan. Glauben Sie nicht? Ein WhatsApp-Gegencheck in Mittelamerika bestätigt: Auf den Märkten von Granada in Nicaragua gibt es nur eine Sorte, im Norden des Landes soll es noch eine zweite geben. Samen Köller hat gezählte 64.
Noch ein Tipp zur Weihnachtszeit – wer noch sucht, kann hier auch noch mehr finden als Kinderbücher, Gartenbücher, Indoorgartenzwerge mit Stil, Miniaturwerkzeug für Balkon und Fensterbank, seltene wie originelle Spiele, Dekos und Gadgets aus England und Holland, Vogelpfeifen für Birdwatcher, Billets mit eingearbeiteten Samen zum Einweichen und Aufgehen, kunstvolle Teller, dekorative Vögel, Rosenkugeln, Glaskugeln und -figuren für den Christbaum, Briefbeschwerer, Kuhmemory …

Samenhandlung Köller
Zum schwarzen Rettig
8020 Graz, Südtirolerplatz 1
Telefon 0316 718707
samen-koeller.at

Fazitportrait, Fazit 119 (Jänner 2016, 10/2015) – Foto: Marija Kanizaj

Kommentare

Antworten