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Europa braucht einen neuen Traum

| 22. Dezember 2015 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 119

Foto: European AlternativesEin Essay von Ulrich Beck. Es war einmal ein europäischer Traum. Der handelte davon, wie aus Feinden Nachbarn werden. Nachbarn, die sich vielleicht nicht unbedingt mögen, Nachbarn, die sich auch streiten, missverstehen, wechselseitig ihre Stereotype pflegen, aber eben Nachbarn und nicht Feinde. Dieser Traum ist paradoxerweise in seiner Erfüllung verblasst. Es ergibt für viele offenbar keinen Sinn mehr, vom Frieden zu träumen, wenn ein Krieg in Europa nahezu undenkbar geworden ist.

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Professor Dr. Ulrich Beck war einer der bekanntesten deutschen Soziologen der  Gegenwart. Unter anderem war er Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie an der London School of Economics and Political Science. Seine Bücher wurden in mehr als 35 Sprachen übersetzt, er erhielt zahlreiche nationale wie internationale Preise. Ulrich Beck ist im Jänner 2015 im Alter von 70 Jahren gestorben.

Es war einmal ein europäischer Traum. Der handelte davon, wie aus Feinden Nachbarn werden. Nachbarn, die sich vielleicht nicht unbedingt mögen, Nachbarn, die sich auch streiten, missverstehen, wechselseitig ihre Stereotype pflegen, aber eben Nachbarn und nicht Feinde. Dieser Traum ist paradoxerweise in seiner Erfüllung verblasst. Es ergibt für viele offenbar keinen Sinn mehr, vom Frieden zu träumen, wenn ein Krieg in Europa nahezu undenkbar geworden ist.

Heute erleben viele Menschen die Europäische Union als Albtraum – als den Albtraum der Arbeitslosigkeit, des Abstiegs, der Armut, des Verlustes von Würde, Gerechtigkeit, Identität und Demokratie. Ist es möglich, dass die Entfremdung der Menschen von der EU gefährlicher für die EU ist als die Euro-Krise? Ja, das ist möglich. Ist es möglich, dass die skandalöse Jugendarbeitslosigkeit für Europa gefährlicher ist als die Euro-Krise? Ja, das ist möglich. Ist es möglich, dass die neuen Gräben zwischen Nord und Süd, zwischen Gläubigern und Schuldnern, zwischen Euro-Ländern und Nicht-Euro-Ländern gefährlicher für die EU sind, als die Euro-Krise selbst? Ja, auch das ist möglich. Ist es möglich, dass der europäische Traum – Freiheit, Demokratie, Weltoffenheit – in den überfüllten Flüchtlingsbooten im Mittelmeer und von den Menschen, die auf den Straßen Istanbuls, Kairos, Moskaus, Rio de Janeiros und Tokios protestieren, geträumt wird, aber nicht in der EU selbst? Ein Traum, den gerade die auf den Straßen für ihre Zukunft in der EU protestierenden Ukrainerinnen und Ukrainer noch zu träumen verstehen, und den sie leider wohl weiter träumen müssen. Ihre Botschaft an uns alle ist: Europa ist mehr als eine Währung, mehr als ein Fiskalpakt. Europa ist eine Hoffnung, die nicht enttäuscht werden darf! Aber wenn all dies möglich ist, dann muss – um Himmels willen – doch endlich etwas geschehen! Aber was? Europa muss die Kraft des Träumens zurückgewinnen. Diese Kraft des Träumens könnte, in gesellschaftliche und politische Formen gegossen, ein contrat social für Europa werden. Meine Frage lautet: Welche politische Gestalt muss ein Europa annehmen, das sich von einem Albtraum wieder zum Traum verwandelt?

Europa im fremden Blick

In der bisherigen Betrachtungsweise bleibt zumeist (und das meine ich durchaus selbstkritisch) die Frage ausgeklammert: Welchen Einfluss haben und hatten Prozesse der Entkolonialisierung auf die Herausbildung der Europäischen Union und ihre Entwicklung? Denn auch hier sind es die Siege des modernen, industriellen Kapitalismus und deren Nebenfolgen – globale Risiken, Krisen und geopolitische Verschiebungen speziell seit 1989 –, welche die Grundlagen der nationalstaatlichen Ordnungen innerhalb und außerhalb Europas infrage stellen.

Aus der Perspektive der sich entwickelnden Länder betrachtet, zeigt sich gegenwärtig allerdings ein etwas anderes Bild Europas. Es ist gekennzeichnet durch eine Machtverschiebung zugunsten der postkolonialen, sich entwickelnden Länder (die sich beispielsweise auch in ihrer Teilnahme an den neuen G20-Zusammenkünften niederschlägt) und eine Verschiebung des Schwerpunkts der weltökonomischen Machtgeografie vom Atlantik zum Pazifik, verbunden mit der schleichenden Entmonopolisierung des US-Dollars als globale Leitwährung zugunsten einer Bündelung verschiedener Währungen und bilateraler Währungsabkommen. Hinzu kommt die wachsende Bedeutung der Süd-Süd- und Ost-Süd-Kooperation zur Lösung wirtschaftlicher Probleme und nicht zuletzt der Verlust an moralischer Autorität und Vorbildlichkeit des ehemaligen US-amerikanisch-europäischen Zentrums. Die Konsequenz daraus ist: Das alte, westlich dominierte Zentrum-Peripherie-Modell droht zu kippen. In Zukunft dreht es sich nicht mehr primär um das Verhältnis von Postkolonialismus und Europa. Vielmehr stellt sich die Frage: Inwieweit beginnt eine Art »Prä-Kolonialisierung« des Ex-Zentrums Europa durch seine Ex-Kolonien, insbesondere China und Indien? China jedenfalls mischt sich gegenwärtig immer stärker in die Belange Europas ein – ironischerweise jedoch keineswegs nur zu dessen Nachteil, sondern im Gegenteil auch zur Stützung des Euro und damit der Europäischen Union – und zwar durchaus aus eigenem Interesse. China, selbst im Besitz immenser Euro-Reserven, hat zunächst Griechenland mit einem Kredit über 3,6 Milliarden Euro und dem Kauf von Staatsanleihen geholfen und inzwischen auch Spanien ähnliche Hilfe zugesagt. All das verschiebt das globale Machtgefüge immens.

Kosmopolitisierung als Forschungsprogramm

Die neuen Tatsachen der postkolonialen Kosmopolitisierung Europas können überhaupt nur dann in den Fokus geraten, wenn die Borniertheit des weiterhin herrschenden methodologischen Nationalismus durchbrochen wird. Methodologischer Nationalismus geht davon aus, dass Nation, Staat und Gesellschaft »natürliche« soziale und politische Formen der modernen Welt seien. Er nimmt eine »natürliche« Aufteilung der Menschheit in eine begrenzte Zahl von Nationen an, die sich im Innern als Nationalstaaten organisieren und nach außen von anderen Nationalstaaten abgrenzen. Er geht sogar noch weiter und stellt diese äußere Begrenzung im Zusammenhang mit der Konkurrenz zwischen Nationalstaaten als Zentralkategorie politischer Organisation dar. Tatsächlich ist das ganze bisherige soziologische Denken, ja sogar die soziologische Imagination, Gefangener des Nationalstaats. Und ebendieser methodologische Nationalismus hindert die Sozialwissenschaften daran, den Prozess der Kosmopolitisierung im Allgemeinen und der Europäisierung im Besonderen überhaupt ins Blickfeld der Analyse zu rücken.

Wo soziale Akteure diesem Glauben anhängen, spreche ich von einer »nationalen Perspektive«, wo er die Sicht sozialwissenschaftlicher Beobachter bestimmt, von »methodologischem Nationalismus«. Und methodologischer Nationalismus ist kein Oberflächenproblem oder Schönheitsfehler. Er betrifft sowohl die Verfahren der Datenerhebung und -produktion als auch Grundbegriffe der modernen Soziologie und politischen Wissenschaft wie »Gesellschaft«, »soziale Ungleichheit«, »Klassen«, »Familien«, »Erwerbsarbeit«, »Religion«, »Staat«, »Demokratie« und »imagined communities«. Eine Schlüsselfrage, die demgegenüber der methodologische Kosmopolitismus aufwirft, lautet: Wie können Untersuchungseinheiten jenseits des methodologischen Nationalismus gefunden und festgelegt werden, die es erlauben, die komplexen Prozesse und (Inter-)Dependenzen der Kosmopolitisierung zu erfassen und vergleichend zu analysieren? Worauf kann man die sozialwissenschaftliche Analyse beziehen, wenn man sie einerseits aus dem »Container« des Nationalstaats befreien, andererseits aber nicht in abstrakten Konzepten der »Weltgesellschaft« Zuflucht suchen will? [1]

Die empirische Forschung in so unterschiedlichen Fächern wie der Soziologie, Ethnologie, Anthropologie, Geografie oder Politikwissenschaft hat in den vergangenen Jahren eine große Zahl von Konzepten entwickelt, die alle das Ziel haben, die vermeintlich natürliche Gleichsetzung von Gesellschaft, Nation und Staat aufzubrechen. Paul Gilroys Konzept des »Black Atlantic«, Saskia Sassens Identifizierung der »global city«, Arjun Appadurais Auffassung von »scapes«, Martin Albrows Konzept des »global age« und meine eigene Analyse des »kosmopolitischen Europas« sind nur einige Beispiele für diese Forschungsrichtung. [2]

Für den methodologischen Kosmopolitismus von besonderer Bedeutung ist die Frage nach dem Stellenwert des Nationalen und des Nationalstaats bei der Bestimmung von Untersuchungseinheiten. Die methodologisch radikalste Möglichkeit besteht darin, die nationale Rahmung der Untersuchungseinheit durch andere Blickwinkel zu ersetzen (»replacing the national«). Wenn man den methodologischen Kosmopolitismus jedoch darauf beschränkte, würde man seine Reichweite und seine Anwendungsmöglichkeiten unzulässig eingrenzen. Denn die empirische Globalisierungsforschung hat längst gezeigt, dass der Nationalstaat auch im Zeitalter der Globalisierung nicht gänzlich verschwindet, sondern im Gegenteil aufgewertet wird. Das zeigen exemplarisch die globalen Finanzrisiken, die das institutionelle Instrumentarium der EU entwertet haben. Die EU ist zur »lahmen Ente« geworden, der nur im Zuge neuer europäischer Initiativen der nationalen Regierungen, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, neue Flügel wachsen könnten. Insofern ist es sinnvoll, auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Nationalstaat machtvoll weiter besteht, aber seine erkenntnistheoretische Monopolstellung verliert. Die methodologische Konsequenz bestünde dann darin, neue Untersuchungseinheiten zu finden, in denen das Nationale zwar enthalten ist, die aber nicht mehr deckungsgleich sind mit dem Nationalen.

Diese Einbettung des Nationalen in Prozesse der Kosmopolitisierung kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Entsprechend vielfältig sind die neuen Untersuchungseinheiten, die in dieser Variante des methodologischen Kosmopolitismus entwickelt wurden. Ein Beispiel dafür ist das Konzept der »transnationalen Politikregime«. [3]
Es bezieht sich auf neue Formen der transnationalen Institutionenbildung, die sich im Zusammenhang mit einer Reihe globaler Regelungsprobleme wie dem Klimawandel, dem Internet oder der Besteuerung global agierender Unternehmen herausgebildet haben. Diese Institutionen organisieren transnationale Interaktionen, deren Grenzen nicht durch nationale Hoheitsrechte definiert werden, sondern durch ein spezifisches Regulationsproblem. Sie integrieren auf diese Weise verschiedene und extrem variable Gruppen von Akteuren (öffentliche und private) und erstrecken sich über verschiedene territoriale Ebenen. Für eine empirische Analyse transnationaler Politik sind diese Politikregime vielfach die angemessenste Untersuchungseinheit. Entscheidend ist hier, dass diese neuen Institutionen den Nationalstaat nicht ersetzen, sondern ihn vielmehr integrieren. Die Nationalstaaten sind in neue transnationale Regulationssysteme eingebettet, und eine der wichtigsten Aufgaben empirischer Forschung ist die Analyse der spezifischen Bedeutung, die sie im Rahmen dieser Institutionen – der politischen Institutionen, der Wirtschaft, der Eliten, der Regierungen, des Rechts – annehmen.

Was aber bedeutet Europa eigentlich für jede(n) individuell? Und welche Prinzipien für einen möglichen Gesellschaftsvertrag für Europa lassen sich daraus entwickeln? Einen Ansatz für eine denkbare Antwort auf diese Frage kann man bei Jean-Jacques Rousseau finden, in seinem vor etwas über 250 Jahren erschienenen »Contrat social«. Darin hat Rousseau in einem bis heute faszinierenden Entwurf dargelegt, wie die Menschen, wenn sie den Naturzustand (l’état de nature) überwinden, durch einen Gesellschaftsvertrag (contrat social) zu Freiheit und Identität in der Gemeinschaft finden könnten. Am Anfang des 21. Jahrhunderts geht es nicht mehr darum, den Naturzustand, sondern den Nationalzustand zu überwinden. An Rousseaus Idee anknüpfend und sie weiterentwickelnd, werde ich im Folgenden meine These »Europa braucht einen neuen Traum – einen contrat social« in vier Schritten entfalten.

Erstens: Mehr Freiheit durch ein kosmopolitisches Europa

Europa ist keine Nationalgesellschaft und kann auch keine Nationalgesellschaft werden, da es aus demokratisch verfassten Nationalgesellschaften besteht. Und in diesem nationalstaatlichen Sinne ist Europa dann auch keine Gesellschaft. Die europäische »Gesellschaft« muss vielmehr als »post-nationale Gesellschaft der Nationalgesellschaften« begriffen werden. Die Aufgabe, die sich damit stellt, lautet: Finde eine Form des europäischen Zusammenschlusses, die mit ihrer gemeinschaftlichen Kraft jedes Individuum in jeder nationalen Gesellschaft rechtlich schützt und gleichzeitig jeden, indem er oder sie sich mit Individuen anderer Sprachen und politischer Kulturen zusammentut, bereichert und freier macht als zuvor. Der französische Soziologe Vincenzo Cicchelli hat über die junge Generation Europas geforscht, was sie eint, was sie trennt – und woran sie sich in diesen unsicheren Zeiten orientieren kann. [4] In seiner Studie wird deutlich, warum Europa, verstanden als gesellschaftlicher Erfahrungsraum, für die junge Generation ein Mehr an Freiheit und an Reichtum bedeutet: »Überall in Europa wird der Jugend bewusst, dass die Kultur ihres Heimatlandes sicherlich wichtig und konstituierend für ihre Identität ist, aber nicht ausreicht, um die Welt zu begreifen. Die Jugendlichen wollen die anderen Kulturen kennenlernen, denn sie ahnen, dass die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Fragen mit der Globalisierung eng zusammenhängen. Deshalb müssen sie sich an der Andersartigkeit reiben, am kulturellen Pluralismus. Das ist ein langer Lernprozess, über touristische, humanitäre und Studienreisen, aber auch, indem man sich zuhause für kulturelle Erzeugnisse der anderen interessiert, Kino, Fernsehserien, Romane, Kochkunst, Kleidung.« [5]

Die junge Generation erfährt demnach die europäische Gesellschaft als »doppelte Souveränität«: als Summe nationaler und europäischer Entfaltungschancen. Die Jugendlichen beschreiben ihre Identität nicht, wie oft erwartet wird, als eigenständige europäische Identität. Niemand ist nur Europäer. Die jungen Europäer definieren sich zunächst über ihre Nationalität und dann als Europäer. Europa ohne Grenzen und mit einer gemeinsamen Währung bietet ihnen Mobilitätschancen, wie es sie nie zuvor gegeben hat, und dies in einem sozialen Raum mit enormem kulturellen Reichtum, mit einer Vielzahl von Sprachen, Geschichten, Museen, Essenskulturen und vielem mehr.

In der Studie von Cicchelli wird allerdings auch sichtbar, wie diese europäische Erfahrung im Gefolge der gegenwärtigen Krise brüchig wird. Zunehmend wird die wechselseitige Anerkennung unterlaufen durch die Wiederkehr alter Rivalitäten und Vorurteile, beispielsweise zwischen dem Süden und dem Norden Europas. Auffallend ist allerdings auch, dass die Welt der Brüsseler Institutionen für die junge Generation weit weg, abstrakt und undurchschaubar ist. Ihre Erfahrung ist ein Europa minus Brüssel. »Das Problem ist nicht das Fehlen von europäischem Gefühl, sondern die Tatsache, dass es mindestens zwei davon gibt. Es gibt das gute Gefühl jener übergroßen Mehrheit, die keine der großen europäischen Freiheiten mehr missen möchte. Und es gibt das ungute Gefühl oft derselben Menschen, dass da fern in Brüssel ein Paralleluniversum existiert, das dem eigenen Leben entrückt ist.« [6]

Warum kommt diese Erfahrung eines gelebten Europas der Individuen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Euro- und Europa-Krise so gut wie gar nicht vor? Das liegt vor allem daran, dass die europäische Integration in der Politik, aber auch in der Forschung zumeist eindimensional und institutionenorientiert gedacht wird: Das Zusammenwachsen Europas wird als Prozess begriffen, der vertikal, das heißt – von oben nach unten – zwischen europäischen Institutionen und nationalen Gesellschaften stattfindet. Wie die Studie Cicchellis zeigt, bleibt diese institutionelle Seite und Sicht sogar für die europaerfahrene »Erasmus-Generation« [7] undurchsichtig und fremd. Ihr gelebtes Europa verweist auf eine zweite, horizontale Dimension, die in der konventionellen Politik und Europaforschung ausgeblendet bleibt. Das Vergessen der europäischen Gesellschaft der Individuen ist also damit zu erklären, dass ebenjenes gelebte Europa in der Institutionenperspektive der vertikalen Integration nicht auftaucht, während umgekehrt die vertikale Integration im Erfahrungshorizont der einzelnen Menschen nicht präsent ist.

Hier wird zugleich deutlich, was den europäisch geprägten Gesellschaftsbegriff ausmacht – im Gegensatz zum nationalstaatlich geprägten: Auch wenn die Jugendlichen sich als Angehörige einer bestimmten Nation fühlen, als Polen, Franzosen oder Schweden, so ist ihr Lebensgefühl doch wesentlich bestimmt von den kosmopolitischen Freiheiten, sich selbstverständlich und ohne Hindernisse über Grenzen hinweg zu bewegen, von einem Land in ein anderes. In diesem Sinne erfahren die Jugendlichen ein kosmopolitisches Europa, in dem sich die nationalen Unterschiede und Gegensätze mischen und verwischen: mehr Freiheit durch ein kosmopolitisches Europa.

Zweitens: Mehr Sicherheit durch ein soziales Europa

Die europäische Gesellschaft der Individuen ist zugleich geprägt vom Risikokapitalismus, der einerseits geltende moralische Milieus, Zugehörigkeiten und soziale Sicherheiten auflöst, andererseits neue Risiken erzeugt. Die Menschen müssten das Gefühl bekommen, dass nicht alle Risiken der Welt, vor allem auch die der vom Bankrott bedrohten Banken und Staaten, auf ihren Schultern abgeladen werden, sondern dass es etwas gibt, das den Namen »Europäische Gemeinschaft« verdient, weil es in diesen unruhigen Zeiten die Erneuerung sozialer Sicherheit zum Programm erhebt und garantiert. Der verheißungsvolle Begriff »Europäische Gemeinschaft« stünde dann nicht nur für gelebte Freiheit und Risikomaximierung, nicht nur für ein kulinarisches, sondern für ein soziales Europa: mehr soziale Sicherheit durch ein anderes Europa. Die Finanzkrise, die ja nicht die einzelnen Bürgerinnen und Bürger, sondern die Banken ausgelöst haben, und die Antwort der Sparpolitik stehen in den Augen vieler Europäer für eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit: Für irrsinnige Summen, welche die Banken verpulvert haben, müssen am Ende sie, die Bürger, oft die armen Bürger, mit der baren Münze ihrer Existenz bezahlen. Die Kraft des europäischen Traumes müsste den Spieß umdrehen: Nicht bailout für die Banken, sondern ein »sozialer Rettungsschirm« für das Europa der Individuen – das könnte in den Augen der Menschen der europäischen Idee die Kraft verleihen, nämlich Europa glaubwürdiger, gerechter, wichtig für das eigene Leben zu machen.

Insofern ist Ralf Dahrendorfs Prognose vom »Ende des sozialdemokratischen Zeitalters« [8] veraltet. Im Gegenteil: Gerade jetzt und in Europa entscheidet sich, ob es mit der Mobilisierungskraft globaler Risiken gelingt, den Traum der sozialen und ökologischen Demokratie aus dem Dornröschenschlaf der wohlfahrtsstaatlichen Routinen zu wecken, ins Europäische hinein zu öffnen und zu einer Vision zu formen, für deren Verwirklichung sich viele Einzelne vieler Nationen online und offline zu sozialen Protestbewegungen außerhalb und innerhalb des politischen Systems und über Grenzen hinweg zusammenschließen. Bislang wurde die Idee sozialer Sicherheit wie selbstverständlich und ausschließlich im Rahmen des Nationalstaates gedacht und von nationalstaatlich orientierten und organisierten Parteien und Gewerkschaften verwirklicht. Aufgrund dieser engen Verkopplung musste dieser Traum im Zeitalter der Globalisierung in die Defensive geraten. Doch die Ausgangssituation hat sich mit dem Taifun der Finanz- und Euro-Krise und den in allen Gesellschaften bestehenden Ungleichheiten dramatisch verschärft. Die soziale Frage ist zur globalen Frage geworden, auf die nur nationalstaatlich leere Antworten gegeben werden. Das kommt (in der alten Sprache gesprochen) einer vorrevolutionären Situation nahe. Der Gesellschaftsvertrag, der die Individuen für Europa gewinnen will, muss die Frage beantworten: Wie kann der realistische Traum sozialer Sicherheit so neu geformt und geträumt werden, dass er nicht, wie das heute der Fall ist, in der einen oder anderen Sackgasse verendet – entweder in der Verteidigung national wohlfahrtsstaatlicher Nostalgie oder im Reformeifer neoliberaler Selbstpreisgabe?

Europa zu träumen, heißt zu fragen: Wie kann das soziale und ökologische Gewissen Europas und der Welt geweckt und zu einer politischen Protestbewegung geformt werden, die arbeitslose Spanierinnen, wütende Griechen und die europaweit, ja sogar weltweit in den Abgrund blickende Mittelschicht verbindet – das politische Subjekt bildend, das den Gesellschaftsvertrag durchsetzt? Wie ist die Quadratur des Kreises möglich, einerseits den Sprung in die Transnationalität der europäischen Politik zu schaffen, andererseits nationalstaatliche Wahlen zu gewinnen? Europa befindet sich in einem Notstand, und die politische Macht hat, wer über die Zulassung von Themen zur Öffentlichkeit entscheidet. Lassen Sie mich daher einen Vorschlag zu den Europawahlen machen. Wir haben durchaus Beispiele dafür, wie sich europäischer Enthusiasmus herstellen lässt, etwa die europäische Champions League im Fußball oder kontinentale Schlagerwettbewerbe. Der europäische Traum könnte vielleicht durch so etwas Profanes wie eine Eurovisions-Sendung (den utopischen Gehalt dieser technischen Vokabel ernst nehmend) zur europaweiten Debatte der Spitzenkandidaten für die Position des zukünftigen Kommissionspräsidenten neue Strahlkraft gewinnen. Dann könnte es endlich einen wirklich europäischen Willensbildungsprozess zu dem Thema geben: Warum Europa? Warum nicht kein Europa? Welches Europa wollen wir? Wir diskutieren viel über die Vereinigten Staaten von Europa, aber um eine Diskussion darüber führen zu können, brauchen wir zunächst die Vereinigten Fernsehanstalten von Europa. Wir brauchen eine Initiative, die in und für Europa überhaupt erst die Öffentlichkeit herstellt, damit wir frei und fokussiert zu europäischen Themen wählen können.

Drittens: Mehr Demokratie durch ein Europa der Bürgerinnen und Bürger

Die Grundlage des contrat social für Europa ist nicht – wie Rousseau dies dachte – der Gemeinwille (volonté générale), der die Eigeninteressen aufhebt und absolut ist. Grundlage ist vielmehr die Einsicht, dass alte, für die Ewigkeit gedachte Institutionen zerfallen, und dass es im Europa der Individuen für biografische und politische Schlüsselfragen keine fertigen Antworten gibt – und dass dies kein Mangel ist, sondern auch ein Mehr an Freiheit erlaubt. So verstanden ist der europäische Traum ein Gesellschaftslabor für soziale und politische Ideen, wie es nirgendwo sonst existiert. In der Politik wie im Leben der oder des Einzelnen geht es darum, alternative Zukünfte aufzuzeigen und auf diese Weise, suchend und versuchend, die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden und den großen Risiken der Gegenwart wirksam entgegenzutreten.

Mit dem Aufruf »Wir sind Europa« haben Daniel Cohn-Bendit und ich gemeinsam mit vielen europäischen Intellektuellen 2012 ein freiwilliges europäisches Jahr gefordert. [9]
Das soll nicht nur der jüngeren Generation und den Bildungseliten, sondern allen, auch Rentnern, Berufstätigen, Arbeitslosen, ja sogar Theologen ermöglichen, in einem anderen Land, einem anderen Sprachraum ihren Traum von einem Europa der Bürger zu verwirklichen. Bei diesem freiwilligen europäischen Jahr ginge es weder um Sozialdienst noch um Sozialarbeit im üblichen Sinne, sondern darum, dass im Zusammenleben der einzelnen Menschen, in der Begegnung, im gemeinsamen Handeln, in Gesprächen, Beobachtungen, im Miterleben die Situation der anderen nachvollziehbar wird – ihre Ängste, Hoffnungen, Enttäuschungen, Gefühle der Demütigung, ihre Wut. Mit anderen Worten: Es geht um ein Handeln, aus dem der kosmopolitische Blick erwächst. Ein Umbau der europäischen Institutionen (Wirtschaftsregierung, Fiskalunion, Brandmauer, Eurobonds) reicht nicht, um die Krise Europas zu bewältigen. Mit monetären »Rettungsschirmen« allein lässt sich Europa nicht retten. Die Malaise hat ihre Wurzeln darin, dass wir ein Europa ohne Europäer haben. Was fehlt, das Europa der Bürger, kann nur von unten wachsen, aus der Zivilgesellschaft selbst. Deshalb brauchen wir ein freiwilliges europäisches Jahr für alle. Dieses würde auf eigene Weise die Frage beantworten, was Europa für jede(n) Einzelne(n) bedeutet – würde es doch tätige Teilhabe ermöglichen und auf diese Weise eine Verbindung herstellen zwischen dem eigenen Leben und Handeln und jenem (aus der Sicht vieler Europäer) technokratischen Nirwana namens Brüssel.

Der Ausbau der politischen Union zu einer gemeinsamen Steuer-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ist mit einer demokratischen Garantie zu verbinden, die es für den nationalen Bürger attraktiv macht, zum politischen Bürger Europas zu werden. Dies könnte auf verschiedene Wege erreicht werden, zum Beispiel indem das Europäische Parlament mit dem Recht auf Gesetzesinitiativen ausgestattet wird, die verschiedenen Parlamente direkt miteinander koordiniert werden oder ein EU-Präsident europaweit am selben Tag direkt gewählt wird. Europäische Demokratie ist ohne europäisches Geld, europäische Steuern, europäische Haushaltssouveränität nicht möglich – doch ohne den Ausbau der europäischen Demokratie bleibt all dies technokratisch-autoritär. Mehr Demokratie durch ein anderes Europa braucht also einen eigenen Topf. Es müsste so etwas geben wie eine Europasteuer oder Eurosteuer, die direkt nach Brüssel geht und über deren Verwendung das Europäische Parlament entscheidet. Wenn man sich auf den Standpunkt der Bürger stellt und fragt, was das heißt, dann ist sofort klar: Finger weg von einem »europäischen Solidarzuschlag« nach dem Modell des deutschen »Solidarzuschlags«, Finger weg von einer europäischen Mehrwertsteuer und so weiter. Aus Bürgersicht wäre eine Europasteuer wohl nur dann legitim, wenn diese zugleich den Zweck erfüllen würde, den entfesselten Risikokapitalismus zu zähmen, wie dies beispielsweise die (nur in einigen EU-Ländern eingeführte) Steuer auf finanzielle Transaktionen leisten soll.

Viertens: Vereinigte Staaten von Europa oder Vereinigte Städte von Europa?

»Niemand kann gegen die Märkte Politik machen.« Dieses Diktum Joschka Fischers war exemplarisch für das Selbstverständnis der politischen Klasse in den vergangenen beiden Jahrzehnten. In der Finanz- und Euro-Krise endete die Legende der unpolitischen Globalisierung, und damit konnte auch eine kosmopolitische Regulierung der Finanzmärkte zum Thema werden. Regeln braucht auch das Internet, weil es selbst zu einer virtuellen Weltrisikogesellschaft geworden ist, in der gewaltige Bedrohungen stecken. Doch wer schützt? Wer gefährdet wen? Wer regelt? Wer richtet? Das Weltrisiko öffnet, erzwingt vielleicht sogar auch transnationale Koalitionen, ermächtigt zugleich aber die Nationalstaaten. Der nationale Blick, die nationale Brille hat einen blinden Fleck – Europa! Die europäische Krise ist im Kern also keine Finanz-, sondern eine Kopfkrise: Wer national denkt und national handelt, kann Europa noch nicht einmal sehen, geschweige denn verstehen. Der regressive Nationalismus von rechts und links hat die europäische Idee auf dem Gewissen. Die EU ist ein historisch einmaliges Gebilde. Ein europäisches Volk und der europäische Bürger lassen sich nicht am Reißbrett entwerfen. Manchmal habe ich den Eindruck, die europäischen Politiker irren herum und suchen nach dem Volk, das zur EU passt. Die Gretchenfrage aber lautet: Wie kann Europa Frieden und Freiheit für seine Bürger im Lichte alter und neuer Bedrohungen sichern?

Wer spricht die Sprache Europas? Die nationalen Regierungen? Das Europäische Parlament? Der Europäische Gerichtshof? Brüssel? Deutschland? (Also die ungewählte Kanzlerin Europas, Angela Merkel?) Oder doch die Bürger Europas? Wir müssen neu überlegen, wie wir den europäischen Souverän definieren. Mein Vorschlag ist, nicht nur über die Vereinigten Staaten von Europa nachzudenken, sondern auch über die Vereinigten Städte von Europa. Das Europa der Bürger bedarf kosmopolitischer Akteure, deren kooperative, politische Gestaltungskraft nicht durch nationale Egoismen und Feindbilder gelähmt wird. Die Nationalstaaten versagen angesichts der globalen Probleme – die cities könnten zu Akteuren der Hoffnung eines kosmopolitischen Europas der Bürger werden. Stadtluft macht frei, Stadtluft macht europäisch! Hier wird der Klimawandel verursacht, erfahren und bekämpft. Hier findet die bessere Demokratie statt. Auch sind die Großstädte das politische Zukunftslabor.

Das alles könnte ein guter Ansatzpunkt für eine Erneuerung des europäischen Traumes werden, für den nicht nur die Menschen in Kiew auf die Straße gehen, sondern den auch die Bürger in Europa träumen: Freiheit, Demokratie, soziale Sicherheit und Weltoffenheit! Während die Schuldenkrise vorübergehend in den Hintergrund zu treten scheint, tritt die tiefere politische Krise der europäischen Demokratie und Governance immer sichtbarer hervor. In dieser Situation wird die Europawahl im Mai 2014 auch zu einer historischen Entscheidung über die Frage: Welches Europa wollen wir?

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Fußnoten

1. Vgl. Ulrich Beck, Methodological Cosmopolitanism – In the Laboratory of Climate Change, in: Soziologie, (2013) 3, S. 278–289.
2. Vgl. Paul Gilroy, Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London–New York 1993; Saskia Sassen, The Global City, New York 1991; Arjun Appadurai, Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996; Martin Albrow, Das globale Zeitalter, Frankfurt/M. 2007; Ulrich Beck/Edgar Grande, Europas letzte Chance: Kosmopolitismus von unten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2005) 9, S. 1083–1097; dies., Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt/M. 2004.
3. Vgl. Edgar Grande, Vom Nationalstaat zum transnationalen Politikregime – Staatliche Steuerungsfähigkeit im Zeitalter der Globalisierung, in: Ulrich Beck/Christoph Lau (Hrsg.), Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt/M. 2004, S. 384–401.
4. Vgl. Vincenzo Cicchelli, L’esprit cosmopolite: voyages de formation des jeunes en Europe, Paris 2012.
5. »Die Pfade werden kurviger«. Interview von Isabelle Rey-Lefebvre mit Vincenzo Cicchelli, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 31.5.2012, S. 15.
6. Daniel Brössler, Das gefühlte Europa, in: SZ vom 29.6.2012, S. 4.
7. »Erasmus« ist der Name des Stipendiums, das es Studierenden erlaubt, an verschiedenen europäischen Universitäten zu studieren.
8. Ralf Dahrendorf, Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983, S. 16ff.
9. Vgl. Ulrich Beck/Daniel Cohn-Bendit, Wir sind Europa! Manifest zur Neugründung der EU von unten, in: Die Zeit, Nr. 19 vom 3.5.2012, S. 45, http://www.manifest-europa.eu (3.2.2014).

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Vorliegender Text erschien in der Zeitschrift »Aus Politik und Zeitgeschichte«, Ausgabe 14/2014, »Europawahl 2014« am 11. März 2014 und wurde unter einer Creative Commons Lizenz veröffentlicht (by-nc-nd/3.0/de; Ulrich Beck). Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn. bpb.de

Essay, Fazit 119 (Jänner 2016, 10/2015) – Foto: European Alternatives

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