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Der weihnachtliche Erregungsbeweis

| 17. Februar 2016 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 120, Kunst und Kultur

Foto: Nikola Milatovic

Viel zu viele Medien und noch mehr Webseiten erschaffen eine Welt der überaufgeregten Supersuperlative. Können Artisten auf einer Bühne uns da überhaupt noch in den Bann ziehen? Die erste Eigenproduktion des Grazer »Cirque Noël« schon.

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Der »Circus Pikard« ist der letzte seiner Art. Der letzte rein österreichische Zirkus. Das ist jetzt nicht besonders schlimm, weil Zirkus mit Clowns, Jongleuren, Trapezkünstlern und Tieren schon seit den Neunzehnsechzigerjahren nur mehr kleine Kinder begeistert. Die freuen sich natürlich auch heute noch über Clowns und in viel zu kleinen Käfigen hausende Dromedare. Und worüber freuen sich Mama und Papa? Über die Weiterentwicklung, den neuen Zirkus.

Entstanden in 1970ern in Frankreich, ist der »Cirque nouveau« auch in Graz Stammgast. Nicht nur, weil André Heller und Bernhard Paul den gerade erst gegründeten »Roncalli« beim Steirischen Herbst 1975 in Graz erstmals vorstellten. Sondern vielmehr weil noch neuerer Zirkus dank Werner Schrempf regelmäßig in der steirischen Landeshauptstadt zu sehen ist. Der Grazer sorgt nicht nur beim Straßentheaterfestival »La Strada« immer wieder für »Cirque nouveau«-eske Aufführungen, sondern veranstaltete heuer bereits zum achten Mal den »Cirque Noël« (Weihnachtszirkus). Warum nun ausgerechnet das achte Mal vergangenen Dezember und Jänner so besonders war? Es handelte sich erstmals um eine Eigenproduktion.

Der argentinische Comedian, Schauspieler und Regisseur Adrian Schvarzstein brachte »Seasons« uraufgeführt auf die Orpheumbühne. Vier Jahreszeiten, zwölf Köpfe – keine Tiere. (Und nur wenige Kinder im Publikum.) Sehenswert? Oh, ah, ja! »Cirque nouveau« wirkt über das Zusammenspiel von Akrobatik, Schauspiel und Inszenierung. Und über kleine Geschichten, die das Stück erzählt. Wie jene, in der die Frau dem Mann vorwirft, zu viel zu trinken, was in einem szenenapplausgeschwängerten Flaschenjonglier-Tischspielchen endet. Und dann sind da noch diese Momente, in denen man sich einfach nicht vorstellen kann, dass irgendjemand schneller und gewitzter Halbkugelspielgeräte durch die Luft wirbeln kann als der Diabolokünstler mit der schütteren Ed-Sheeran-Gedächtnisfrisur. Ganz zu schweigen von der spannungsgeladenen Stille, die jene junge Dame auslöst, die den aus gefühlt 47 Barhockern gestapelten Turm besteigt und mit Nummer 48 sogar noch einen draufsetzt.

Zirkus hat Menschen immer dann in den Bann gezogen, wenn dort Dinge passierten und zu sehen waren, die nicht fassbar, unglaublich oder undenkbar sind. Und genau deshalb ist der »Circus Pikard« der letzte Österreicher seiner Art, während der »Cirque Noël« trotz Ticketpreisen für sehr gut verdienende Erwachsene eine Auslastung von 93 Prozent hatte. In unserer modernen Welt der überaufgeregten Supersuperlative mit viel zu vielen Medien und noch mehr Webseiten ist es für Artisten auf kleinen Bühnen schwer geworden, konkurrenzfähig zu sein. Der »Cirque nouveau« ist es. Und »Seasons« brachte den Beweis.

cirque-noel.at

Alles Kultur, Fazit 120 (März 2016) – Foto: Nikola Milatovic

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