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Grazer Bürger

| 24. November 2016 | 1 Kommentar
Kategorie: Fazit 128, Fazitgespräch

Foto: Marija Kanizaj

Der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl über Amtsmüdigkeit, Murkraft und »seine kleine coole Schwester«.

Das Gespräch führten Johannes Tandl und Peter K. Wagner.
Fotos von Marija Kanizaj.

::: Hier können Sie das Interview im Printlayout lesen: LINK

Siegfried Nagl ist nicht erst seit gestern Politiker. Er kennt das Geschäft und er lebt es noch immer. 1998 zog er als Quereinsteiger in den Grazer Stadtrat ein, 2003 wurde er erstmals Bürgermeister. Im Februar stellt er sich zum vierten Mal der Wahl. Und das mit großem Enthusiasmus, obwohl er als Bürgermeister neben Erfolgen auch Rückschläge wie das Bettelverbot oder die Reininghausgründe hinnehmen hat müssen.

Mehr als eine Stunde nimmt er sich für Fazit Zeit. Wäre nicht der Kollege vom Radio schon vor der Tür, das Gespräch hätte gefühlt noch Stunden weitergehen können. Unsere Fragen bekommen wir bei weitem nicht alle durch. Denn, wenn Siegfried Nagl einmal zu erzählen anfängt, dann holt er aus. Gerade wenn der Wahlkampf vor der Tür steht.

Dann gibt es noch diesen Moment am Ende des Gesprächs. »Off records«, wie es im Politiker-Journalisten-Spiel so schön heißt, erzählt er von einem Foul eines politischen Mitbewerbers und schlägt dabei die Hände vor dem Gesicht zusammen. Unsere Fotografin drückt ab. »Oh nein, jetzt haben Sie diese Aufnahme auch noch«, sagt er lächelnd.

***

Herr Bürgermeister, Sie sind seit 2003 Chef der Landeshauptstadt. Was macht den Reiz dieses Amts aus?
Es kommt ganz selten vor, dass jemand vier Mal kandidieren kann. Der Reiz der Kommunalpolitik liegt daran, dass man nah am Bürger ist und viel zurückbekommt. Auch wenn es oft heißt, dass in der Politik genau das Gegenteil der Fall ist.

Sie haben sich damit wieder neu positioniert. Vor der letzten Wahl 2012 haben Sie selbst eingestanden, dass Sie amtsmüde sind.
Diese Frage stelle ich mir immer vor jeder Wahl. Man muss sich selbst hinterfragen, ob man das für sich und seine Familie noch will, ob man noch Ideen hat, sich einzubringen und ob man noch genügend Menschen hinter sich weiß, von denen man getragen wird. Ich habe dieses Gefühl und möchte weiter im Dienste der Grazer arbeiten. Die Reflexion seiner Arbeit sollte aber für jeden Politiker selbstverständlich sein.

Das fällt Ihren meisten Kollegen aber schwer. Kaum ein Politiker hat den Zeitpunkt des Abgangs richtig eingeschätzt.
Ich glaube, die angesprochene Nähe zur Bevölkerung kommt mir zugute. Ich bin nicht in einem Dienstwagen unterwegs. Die Menschen sagen mir direkt ins Gesicht, was sie gut und schlecht finden, und deshalb mache ich mir keine Sorgen, diesen Absprung zu verpassen. Selbst beim Joggen halten mich Leute auf und sagen mir, was ihnen nicht passt.

Ihre aktuelle Amtsperiode geht ein Jahr früher zu Ende. Die KPÖ hat die Zustimmung zum Stadtbudget von einer Volksbefragung zum Murkraftwerk abhängig gemacht, die Sie ihnen nicht zubilligen wollten. Was ist eigentlich gegen eine Volksbefragung einzuwenden?
Ich habe 2012 bereits eine Bürgerbefragung zum Thema Murkraftwerk gemacht. 77,7 Prozent der Menschen haben sich dafür entschieden. Mich haben damals alle gefragt, ob ich mich an das Ergebnis halten werde, und ich habe immer gesagt, ich werde zu meinem Wort stehen. Ich brauche also keine zweite Befragung. Außerdem war diese Befragung rechtlich nicht zulässig und die Initiative »Rettet die Mur«, die meiner Meinung nach den falschen Namen trägt, ist fahrlässig mit den Unterschriften umgegangen. Offen zu sagen, dass die Unterschriften erst überreicht werden, wenn alle Beschlüsse gefallen sind, zeigt, dass es ein reines Politikum war.

Die ganze Geschichte hat dennoch einen negativen Beigeschmack. Die Befragung von 2012 war offiziell eine ÖVP-Parteibefragung, bei der auch Externe teilnehmen durften …
… weil man mich keine Umfrage machen lassen wollte. Man kann dafür oder dagegen sein. Aber alle Umfragen zeigen, dass etwa 80 Prozent der Grazer für das Kraftwerk wären. Wer sehen will, was nach so einem Umbau passiert, muss sich nur eines der vielen Kraftwerke entlang der Mur anschauen. Etwa zu den Murauen in der Murfelderstraße, wo die Menschen mich umarmen, weil sie so glücklich sind über den erlebbaren Naturraum, der dort entstanden ist. Das kann sich durch das Murkraftwerk bis in die Innenstadt weiterziehen. Ich verstehe KPÖ und Grüne überhaupt nicht mehr und rechne noch immer mit einem Baubeginn im heurigen Jahr, weil es nur noch darum geht, ob die Energie Steiermark einen Partner ins Boot holt oder das Kraftwerk alleine stemmt.

Der Aufsichtsrat der Wien Energie hat sich aber noch immer nicht festgelegt, ob sie zu 50 Prozent an dem Projekt beteiligt sein wollen oder nicht.
Die Grazer Grünen haben in Wien unglaublich interveniert, damit die Wiener Grünen diese Entscheidung blockieren. Sie haben alle Register gezogen, um wieder einmal bei einer Sache dagegen zu sein.

Foto: Marija Kanizaj

Der Widerstand in Teilen der Grazer Bevölkerung ist dennoch vorhanden. Auch eine Studie gibt es, die die fehlende Wirtschaftlichkeit des Projekts anspricht. Solcher Widerstand regt sich nicht aus heiterem Himmel. Also anders gefragt: Warum ist Ihnen das Murkraftwerk so wichtig?
Ich habe viele Gründe, warum ich deutlich für ein Murkraftwerk stehe. Ich glaube, es ist die einzige Möglichkeit, das Atomkraftwerk in Krsko stillzulegen. Wir brauchen günstige Alternativen und die würden wir durch ein Murkraftwerk schaffen. Wir schaffen sauberen Strom für bis zu 50.000 Menschen. Ich weiß als Katastrophenverantwortlicher der Stadt Graz, was bei einem Zwischenfall in Krsko passieren würde. Bei günstigem Wind dauert es nicht einmal eine halbe Stunde, bis der Super-Gau bei uns vor der Tür ist. Das Murkraftwerk bedeutet außerdem zwei Jahre Beschäftigung für 1.800 Menschen. Die Bedenken der Gegner wurden im UVP-Verfahren alle behandelt, ihnen wurde Sorge getragen. Das Projekt wurde in vielen Bereichen verbessert. Der Sammelkanal ist ebenso ein Faktor. Er wurde schon zu einem Drittel mit dem letzten Kraftwerk gebaut. Dieser Entlastungskanal sorgt dafür, dass die Fäkalien der Grazer bei Starkregen nicht mehr in die Mur geschwemmt werden. Die Mur wird also sogar sauberer.

Einmal noch nachgefragt: Das Murkraftwerk wäre nach den Reininghausgründen nicht das erste Großprojekt, das nicht so verwirklicht wird, wie Sie sich das wünschen würden. Was würde das Scheitern des Kraftwerks für Sie persönlich bedeuten?
Wir haben so viele Dinge zu tun für Graz. Ein Bürgermeister und seine Stadtverwaltung müssen auch etwas richtig machen, wenn jährlich bis zu 6.000 Menschen zuziehen aus unterschiedlichsten Gründen. Was mir auch wichtig ist, sind positive Beispiele von Stadtentwicklung wie hinter dem Bahnhof oder in Reininghaus, wo die Industriebrachen genutzt werden. Hamburg ist für mich dabei ein tolles Beispiel in Europa mit der Speicherstadt. Ein Traum von mir ist es, dass es neben der schönen Altstadt eine der modernsten Neustädte in Graz gibt. Früher sprach man vom guten Osten und vom schlechten Westen, ich habe immer gesagt, ich will den guten Osten und den coolen Westen schaffen. Da sind wir auf einem guten Weg. Der englische »Guardian« hat mir erst unlängst eine große Freude gemacht, weil die Zeitung »avant garde Graz« als »cooler little sister« von Wien beschrieben wurde. Das war eine Bestätigung für mich, weil ich einst in die Politik gegangen bin, um noch stolzer auf diese Stadt zu sein, als ich es schon war.

Wie sehr stören diese Neuwahlen da in diesen vielen Pläne?
Wer mich kennt, weiß, dass ich immer bis zum Schluss für eine ordnungsgemäße Beendigung der Perioden gekämpft habe. Aber von den sechs Parteien im Grazer Gemeinderat haben drei das Verhandeln eines Budgets bereits verweigert und die KPÖ hat dem Budget bekanntermaßen aufgrund der nicht stattfindenden Volksbefragung nicht zugestimmt. Also musste ich das tun, was im Statut steht: den Gemeinderat auflösen, ein Budgetprovisorium aufstellen und möglichst schnell Neuwahlen forcieren, weil ich keinen Stillstand will.

War es ein Fehler, Elke Kahr zur Vizebürgermeisterin zu machen?
Frau Kahr hat nun erstmals bemerkt, was es bedeutet, auch Gesamtverantwortung zu haben. Sie hat mich zweifach enttäuscht. Einmal, weil sie ihre eigenen Vorstellungen vom Rechtsstaat hat, und zweitens, weil sie jetzt eine gute und sichere Basis für Graz in großer Geschwindigkeit verlassen hat.

Die ÖVP hat bei der letzten Gemeinderatswahl fast fünf Prozent verloren. Man kann davon ausgehen, dass Sie im Februar erneut eher Stimmen verlieren werden. Wie werden Sie in diesem Fall Ihre Position nach der Wahl rechtfertigen?
Ich weiß im Moment überhaupt nicht, wie die Grazer mit der Gesamtsituation umgehen. Ich wünsche mir klare Verhältnisse und warne vor Experimenten. Ich kann aber keine Ergebnisse vorwegnehmen.

Bei der letzten Landtagswahl war das rechte Murufer blau und das linke Murufer grün.
Ja, aber die Grazer differenzieren sehr stark, wer zur Wahl antritt. Bei den Bundespräsidentschaftswahlen gibt es eh nur die Möglichkeit zwischen Blau und Grün. Am 5. Februar ist es anders.

Ein großes Thema wird auch im Grazer Wahlkampf die Migration sein. Kann man diesem Problem anders als mit fortwährenden »Wir schaffen das«-Parolen begegnen?
Wir haben im Rathaus gerade eine Ausstellung, die zeigt, dass 1956 bei der brutalen Niederschlagung der Aufstände in Ungarn immens viele Menschen auch nach Graz kamen und wir das meistern konnten. Vor 20 Jahren wurde es durch den grausamen Jugoslawienkrieg notwendig, vielen Menschen bei uns eine Zukunft zu bieten. Nun haben wir zuletzt die noch größere Herausforderung, Menschen mit ganz anderer, noch weiter entfernterer Kultur Chancen und Heimat zu bieten, gut gemeistert. Ich mache mir keine Sorgen.

Sie forderten aber mit einer Petition eine Grenze von 100.000 Flüchtlingen in Österreich.
Ja, ich war der Erste, der innerhalb der ÖVP eine Internetpetition gestartet hat, dass wir Grenzen setzen müssen. Ich bin ein Verbinder, sehe uns als internationale Stadt und stehe dazu, wenn ich sage, dass es zu einer offenen und sich gut entwickelnden Stadt wie Graz gehört, dass hier Menschen aus 160 Nationen leben. Aber ich weiß auch, was Integration bedeutet und sehe Grenzen des Machbaren.

Graz hat Riesenprobleme mit Migranten. Hinlänglich bekannt sind etwa die Drogenrevierkämpfe, bei denen die Afghanen gerade die Tschetschenen verdrängen.
Vieles passiert, weil die Bundespolitik nicht auf uns gehört hat. Ich hätte etwa gerne, dass diese Menschen sofort in den Arbeitsprozess eingebunden werden. Dann bekommen sie eine Chance und kommen gar nicht auf die Idee, in Bereichen Geld zu verdienen, die uns keine Freude bereiten. Ich habe einmal einen Imkerkurs besucht und dort die Frage gestellt, ob eine Biene in einem anderen Bienenstock landen dürfe. Die Antwort ist einfach: Sobald sie sich einbringt, nehmen sie die anderen Bienen auf.

Kann man als ÖVP diese Diskussion überhaupt führen oder kann man bei diesem Thema nur gegen die Freiheitlichen verlieren?
Natürlich kann man. Die Freiheitlichen sind Extreme, sie wollen trennen und nicht verbinden. Ich glaube nicht, dass wir in Graz eine unsichere Stadt geworden sind, sondern wir leben friedlich zusammen. Das ist eine Diskussion, die die FPÖ führen will, weil sie sonst kein Thema hat. Ganz viele Menschen suchen nur eine Chance und belasten nicht einfach nur unser Sozialsystem. Ich glaube, die ÖVP kann in diesen Fragen eine gute Position der Mitte einnehmen. Mit Sebastian Kurz gibt es bei uns einen Mann, der diese Position auch sehr gut zum Ausdruck bringen kann und gar international Beachtung findet. Ich muss mich als Österreicher nicht genieren, wenn wir 100.000 Leute aufgenommen haben. Da sind alle anderen einmal aufgefordert, etwas zu tun. Bis hin zu den Vereinigten Staaten.

Aber wie hilft man nun etwa den 3.000 Flüchtlingen in Graz konkret?
Ich wünsche mir prinzipiell für alle Menschen die Chance auf eine gute Ausbildung und einen guten Job. Was da in Graz durch NGOs und auch die Stadt Graz passiert, sucht seinesgleichen.

Seinesgleichen sucht auch eine ganz andere Diskussion – jene über das Shoppingcenter Seiersberg südlich von Graz. Wie wir hier sitzen, tagt gerade der Landtag zum Thema.
Die Raumordnung in der Steiermark versagt schon über viele Jahre, aber was heute im Landtag passiert, enttäuscht mich schwer. Ich habe lange alle Verantwortlichen darauf hingewiesen, dass es nicht rechtens ist, was hier passiert. Ob Landeshauptmann Voves, die Bauaufsicht, die Landesräte, die Gemeinde oder die Eigentümer des Einkaufszentrums – mir wurde immer zurückgeschrieben, dass ich mich irren würde. Interessanterweise hat der Bundesverfassungsgerichtshof meine Aussagen aber bestätigt und nun versucht man eine Reparatur. Die tut mir deshalb weh, weil unser Rechtsstaat eine Säule ist, die man nicht umgehen darf. Jeder Häuslbauer muss sich an die Baugesetze halten, hier wird allerdings willkürlich gehandelt.

Foto: Marija Kanizaj

Warum liegen die Positionen der Steirischen Volkspartei und Ihres Grazer Bürgermeisters bei diesem Thema so weit auseinander?
Ich war immer in alle Verhandlungen miteinbezogen, bis die Idee mit der Änderung des Straßengesetzes und den »Interessentenwegen« aufgekommen ist. Da wurde ich nicht eingeladen und habe es erst aus der Zeitung erfahren. Wie gesagt, ich bin sehr enttäuscht und gehe davon aus, dass auch meine Fraktion spätestens in einem Jahr ihren Fehler erkennen wird.

Wenn wir schon bei Fraktionen sind: Mit wem wollen Sie nach der Wahl am 5. Februar eigentlich zusammenarbeiten?
Ich werde auf die Suche nach Partnern gehen müssen, die Verantwortung tragen wollen. Die Sozialdemokratie hat mit Michael Ehmann jemanden, der Handschlagqualität besitzt und das Budget mitgestalten wollte. Die Grünen sind noch immer beleidigt, weil eine Koalition vorzeitig beendet wurde, und die FPÖ hat sich bisher immer von Haus aus verweigert. Die KPÖ hat nach der Wahl vielleicht erkannt, was es bedeutet, Verantwortung zu tragen. Wir werden sehen, was sich ergibt.

Wer soll eigentlich die ÖVP in die nächste Nationalratswahl führen: Reinhold Mitterlehner oder Sebastian Kurz?
Das werden sich die beiden Herren ausmachen.

Und wer soll die ÖVP in die steirische Landtagswahl führen: Hermann Schützenhöfer, Christian Buchmann, Christopher Drexler oder doch Sie?
Das wird die Landespartei am Tag X zu entscheiden haben. Ich habe hoffentlich wieder meine Aufgabe für die nächsten Jahre.

Gibt es denn eigentlich eine Schmerzgrenze für Verluste bei der anstehenden Wahl, die Sie zum Rücktritt bewegen würde?
Nach den Erfahrungen der letzten Jahre werde ich dazu nichts sagen. Zahlenspiele hat schon der Herr Landeshauptmann Voves zuletzt bitter bezahlt, wenn ich das so sagen darf.

Herr Nagl, vielen Dank für das Gespräch!

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Siegfried Nagl wurde am 18. April 1963 in Graz geboren und studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Karl-Franzens-Universität. Mit nur 25 Jahren wurde er geschäftsführender Gesellschafter des elterlichen Betriebs Klammerth in Grazer Herrengasse, ehe er 1998 als Stadtrat für die ÖVP in die Politik quereinstieg. 2003 gewann er die Gemeinderatswahlen und ist seitdem Bürgermeister. Nagl ist verheiratet und hat vier Kinder.

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Fazitgespräch, Fazit 128 (Dezember 2016), Fotos: Marija Kanizaj

Kommentare

Eine Antwort zu “Grazer Bürger”

  1. Visionär und Grazer | FazitOnline. Wirtschaft und mehr. Aus dem Süden.
    3. August 2021 @ 16:32

    […] wir uns 2016 zu einem Fazitgespräch getroffen haben – auch vor der Gemeinderatswahl –, haben Sie gesagt, dass Sie sich vor jeder Wahl neu […]

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