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Linke und Rechte nach 1968

| 30. November 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 138, Kunst und Kultur

Elf Anmerkungen in ungeordneter Folge im Anschluss an Thomas Wagners Buch »Die Angstmacher«. Text von Michael Bärnthaler.

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1. Es gibt einen bestimmten, von »den 68ern« exemplarisch praktizierten Stil provokativ-aktionistischer Politik-Kunst, welcher mittlerweile zur Waffe der Wahl  im Kampf gegen jedes politische Establishment geworden ist. Das Establishment ist heute – auch in Folge der Kämpfe »der 68er« – stark linksliberal geprägt. Auch wenn es nach wie vor Opposition von links gibt, kommt die wirklich relevante Opposition heute mehr und mehr von rechts. Besagter Stil wird daher in zunehmendem Maße auch von (sogenannten »Neuen«) Rechten gepflegt. Da ein Moment des Anti-Autoritären mit diesem Stil untrennbar verbunden ist, entsteht eine Dialektik zwischen Freiheit, befreiender Bewegung und Schließung, Setzung neuer Autoritäten innerhalb der rechten Opposition selbst. Auf Seiten des Establishments wiederum vergrößert sich die Spannung zwischen Anspruch und Realität der pluralen Öffentlichkeit in dem Maße, wie man meint, diese durch Abschottung gegen rechts schützen zu müssen.

2. Was gibt den Menschen Halt? Können Traditionen und Institutionen heute noch leisten, was Rechte von ihnen erwarten? Oder geht psychologische und soziologische Stabilisierung nur noch – aber immerhin – aus technischen Sachzwängen hervor? Weitergedacht: Ist die Stabilisierung, auf die wir uns letztlich hinbewegen, gar eine transhumanistische …?

3. Neue Linke und Neue Rechte teilen über weite Strecken einen gewissen antibürgerlichen Habitus. Alain de Benoist: »Mein Hauptgegner war immer der Kapitalismus in ökonomischer Hinsicht, der Liberalismus in philosophischer und das Bürgertum in soziologischer Hinsicht.« Dieser Feindbestimmung entspricht der provokative Oppositionsstil (siehe 1), insbesondere durch die in ihm anvisierte Verbindung von Kunst und Politik. Wo dieser Stil effizient zur Anwendung kommt, kann er realpolitische Spielräume eröffnen; bleibt er ineffizient, dient er lediglich zur Selbstbespaßung und Lebensgefühlsproduktion seiner Akteure.

4. Der Universalismus (der Vernunft), theoretisch etabliert als notwendig allgemeiner Geltungsanspruch ethischer Normen, manifestiert sich praktisch stets als Imperialismus (der Vernunft?). Im Rahmen des aktuellen politischen Konflikts zwischen, grob gesagt, rechtem Nationalismus und linksliberalem Globalismus stellt sich die dringende Frage, wie partikulare Kollektividentitäten – bejaht man ihr Recht oder ihre Notwendigkeit – ohne eine totale Absage an jeden Universalismus (der Vernunft) theoretisch und praktisch fundiert werden können. Diese Frage – die sich etwa in Bezug auf einen Nationalstaat wie Deutschland oder auch in Bezug auf eine spezifisch europäische Identität stellt – führt letztlich zu der Frage nach den angemessenen, das menschliche Leben schützenden wie aktiv fördernden Grenzen überhaupt.

5. Es kann bereits eine Spaltung der bürgerlichen Intellektuellen entlang der Konfliktlinie Globalismus/Nationalismus beobachtet werden (»Cuckservatives« vs. »Rechte«).

6. In Zeiten der Grenzenlosigkeit muss der Begriff der Grenze neu gedacht werden (siehe 4). Grenzenloses Anything goes bringt das (psychologische und politische) Problem der Austauschbarkeit mit sich. Eine rechte These wäre etwa: Ohne einen gewissen äußeren Druck, der auf sinnvolle Bindungen (z.B. im Rahmen der Ehe) hinwirkt, verfehlt eine Mehrzahl der pseudofreien Subjekte das für sie persönlich mögliche Optimum (an Lebensqualität, Lebenssinn …). (Die Subjekte sind pseudofrei, sofern sie zu vernünftiger Selbstbestimmung nur sehr begrenzt in der Lage sind.) Wenn Identität nicht nur individuell gedacht und gelebt werden kann, dann müssen partikulare Kollektiv-
identitäten eine konstitutive Rolle in jedem Lebensentwurf spielen. Es wäre darüber zu reden, welche partikularen Kollektividentitäten, die natürlich nicht alle (und es gibt viele …) völlig frei wählbar sind, hier von zentraler Bedeutung sein sollen. Das Gesagte impliziert, dass wir niemals nur »freie Gleiche« sein können. Das Leben ist komplizierter. (Das Abenteuer »absoluter Freiheit« – die freilich auch niemals wirklich »absolut« ist – kann wohl von einzelnen Menschen gewagt werden, als Modell für alle Menschen ist es aber untauglich.)

7. Menschen haben nie aufgehört, auch im Rahmen von Mythen ihr Leben zu organisieren. Aller Wert ist in gewisser Hinsicht »mythisch«. (Nicht die Vernunft selbst, der Logos, soll »mythisch« genannt werden, sehr wohl aber der – absolute oder relative – Wert, den wir einer bestimmten Konzeption von Vernunft – und Selbst – zuschreiben.)

8. Ohne partikulare Kollektividentitäten (das sind Kollektividentitäten unterhalb der Ebene der »Menschheit«) existiert kein Mensch. Noch derjenige der sich »nur als Individuum« und »nur als Mensch« definiert, fühlt sich denjenigen zugehörig, die sich auch nur so definieren – in Abgrenzung zu jenen anderen, die sich nicht nur so definieren. Noch das isolierteste Individuum bestimmt sich durch Allgemeinbegriffe, die es ja nicht selbst erschaffen hat, sondern die als Produkt der Geschichte der Menschheit oder eines Teils der Menschheit entstanden, man könnte auch sagen: gewachsen sind.

9. Es gibt ein Balanceproblem von Rationalität und Gefühl. (Vielleicht ist der Mensch überhaupt ein Balanceproblem.) In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem angemessenen Zorn, nach Thymos und Wut. Dass es gefährlich ist, die Massen oder »das Volk« zu mobilisieren, steht außer Frage. Doch wie will gewinnen, wer nichts wagt …? Auch die Männlichkeit des Mannes präsentiert sich uns heute als ein Problem – so wie sämtliche »Herrentugenden«, die um Stolz und Großartigkeit kreisen. Ohne eine nicht-egalitaristische Tugendethik ist das Problem des Ethischen nicht erschöpfend behandelt.

10. Die Bewegung der »Neuen Rechten«, die sich negativ und positiv auf das Ereignis 68 bezieht, ja sich negativ und positiv darauf beziehen muss, wird keine »Revolution« herbeiführen, sie wird aber auch nicht folgenlos bleiben. Sie ist zu einem großen Teil eine Reaktion auf linksliberale Exzesse. Rechts und links sind nur in Relation zueinander zu verstehen. Es wäre ein Wunder, gäbe es keine rechte Reaktion auf das endlose linke Fortschreiten … Der Mainstream wird weiterfließen, aber ihm wird sicherlich von rechts in Zukunft mehr Wasser zugeführt werden. Diesbezüglich zitiert Thomas Wagner sehr passend Götz Kubitschek, der sagt: Die Elite wird ergänzt werden.

11. Die Identitätsfrage (Wer bin ich? Nicht zu denken ohne: Wer sind wir? Siehe oben.) stellt sich uns Europäern heute – nicht nur, aber auch aufgrund der islamischen Masseneinwanderung, verstärkt seit 2015 – in besonderer Schärfe.

Alles Kultur, Fazit 138 (Dezember 2017) – Faksimile: Aufbau-Verlag

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