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Anmerkungen zum Zustand der SPÖ

| 26. März 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 161

Foto: Michael ThurmEin Essay von Caspar Einem. Der ehemalige Minister mit einer Analyse zum Zustand der SPÖ. Und einigen Perspektiven für seine Partei.

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Dr. Caspar Einem war von 1995–2000 Innen-, Wissenschafts- und Verkehrsminister für die SPÖ. Er ist Vizepräsident des Europäischen Forums Alpbach und des Kuratoriums des Instituts für Höhere Studien (IHS) sowie Präsident des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP).

I. Zum Zustand der SPÖ

Vor fünfzig Jahren gewann die SPÖ (ausgedrückt in Prozent) das dritte Mal nach 1945 die Nationalratswahl und Bruno Kreisky konnte erstmals die Regierung bilden. Bei den folgenden Nationalratswahlen bauten Kreisky und die SPÖ  diese Mehrheit noch dreimal weiter aus. Auch danach erreichte die SPÖ noch neun Mal – unterbrochen bloß durch den Wahlsieg von Wolfgang Schüssels ÖVP 2002 – die jeweilige relative Mehrheit. 2017 erreichte dann Sebastian Kurz mit seiner türkisen Wahlbewegung, der alten ÖVP in neuem Gewand, die relative Mehrheit und konnte diesen Erfolg 2019 noch deutlich ausbauen.  Ab 1990 nahm die FPÖ unter Jörg Haider den beiden zuvor unangefochtenen Platzhirschen bei den Nationalratswahlen spürbar Stimmen ab und schaffte den 1999 prozentuellen Gleichstand mit der ÖVP (je 26,9%). Seither setzt sich der Nationalrat im Grunde aus drei gleich starken Mittelparteien und ein bzw. zwei oder drei kleineren Parteien zusammen (Grüne; Liberales Forum; BZÖ; Liste Frank Stronach;  NEOS; Liste Pilz).

Die SPÖ verlor auf Bundesebene ab 1983 kontinuierlich – mit Ausnahme der Jahre 1995, 2002 und 2017 – Stimmen und erreichte 2019 nur noch 21,18%. Stark ist die SPÖ nur in den Bundesländern Burgenland (49,9%  2020), Kärnten (47,9% 2018) und in Wien (39,6% 2015). Alle drei gelten als rote Bundesländer – Kärnten bloß mit der Unterbrechung durch Haider mit der FPÖ und später mit dem BZÖ. Die übrigen Bundesländer galten und gelten als schwarz. Dennoch konnte die SPÖ noch in zwei weiteren Bundesländern in den letzten Jahren ebenfalls die Mehrheit erringen (Salzburg 2004 und 2009 und Steiermark 2005, 2010 und 2015), fiel aber in der Folge teilweise auf weniger als die Hälfte der Stimmen zurück (Salzburg auf 20,0%; Steiermark auf 23,0%).
Heute zeigen Umfragen zur Attraktivität der SPÖ auf Bundesebene nur noch 16–21% und Wien steht vor der Landtagswahl im Herbst. An Herausforderungen mangelt es nicht: ÖVP und GRÜNE könnten vom Rückenwind auf Bundesebene profitieren, die FPÖ kommt doppelt unter Druck, wird auch kumulativ mit der Liste Strache wohl ihren Stimmanteil von zuletzt 30,8% nicht halten können. Die NEOS legen höchstens geringfügig zu. Falls die türkise ÖVP von zuletzt 9% auf prognostizierte 18 bis 20% zulegen sollte und die GRÜNEN von ihren 11,8% auf etwa 13 bis 14%, dann ist der Bürgermeister der SPÖ gefährdet. Fällt aber das »Rote Wien«, dann fehlt der SPÖ auf Bundesebene das Rückgrat.

Das besondere Verhältnis zwischen SPÖ und FPÖ
Ab etwa 1990 war auffällig, dass die Erfolge der FPÖ in den folgenden drei Nationalratswahlen vor allem in Wahlkreisen – bzw. in Wien in Bezirken – möglich waren, in denen zuvor die SPÖ bei weitem stärkste Partei war – also in den sogenannten Arbeiterbezirken [1] . In Wahlkreisen bzw. Bezirken mit vergleichbaren Ergebnissen von SPÖ und ÖVP – den sogenannten bürgerlichen Bezirken – konnte die FPÖ nicht in gleichem Maße reüssieren. Erstaunlich übrigens, dass die Grünen in Wien nie über 14,6% hinaus gekommen sind, obwohl das eine echte Stadtpartei ist.

Was war es, dass die FPÖ in die Lage versetzt hat plötzlich nicht mehr nur die zuvor üblichen einstelligen Ergebnisse zu erzielen, sondern auf 22,5% /1991), ja bis 30,8% (2015) zu springen – einzige Ausnahme 2005, als die Spaltung in FPÖ und BZÖ zu 14,8% führte?

Meine Hypothesen sind folgende: Durch den Aufstieg weiter Gruppen von ursprünglichen SPÖ-Wählern aus der Arbeiterschaft in die untere Mittelschicht ging auch ein Teil der Identifikation mit der SPÖ verloren. Die Aufsteiger versuchten, sich neu zu orientieren, sich in der neuen sozialen Umgebung zurechtzufinden. Das ging besonders in diesen Milieus mit einiger Verunsicherung einher. Darüber hinaus wurde diese Verunsicherung aber auch noch durch den Umstand verschärft, dass mit dem Ende des Kommunismus in Österreichs östlichen Nachbarstaaten die Grenzen aufgingen und einerseits nicht unbedeutende Migration begann, die einerseits Ängste vor steigender Kriminalität aufkommen ließ und die die Bedingungen am Arbeitsmarkt besonders für die gering Qualifizierten massiv verschärfte. Und alle drei Veränderungen machten die Verunsicherten, vielfach ehemalige SPÖ-Anhänger, anfällig für populistische Politik von rechts. Und Haider verstand sein Geschäft …
1994 wurde ich – damals noch Manager in der ÖMV [2] – von der SPÖ Floridsdorf eingeladen und gebeten, das Wahlergebnis der eben zurückliegenden Nationalratswahl für sie zu analysieren. Ich kam dabei unter anderem zu folgendem Ergebnis:

»Die SPÖ hatte viel stärker als alle anderen heute noch maßgeblichen Parteien die Funktion, emotionale Sicherheit zu bieten. Die SPÖ war vom Ende der sechziger Jahre an eine Partei der Modernisierung, aber zugleich eine Partei der Geborgenheit ihrer Mitglieder und ihrer Sympathisanten. Geborgenheit und Sicherheit sind allerdings Kategorien, derer nicht alle im gleichen Maße bedürfen – oder jedenfalls nicht durchwegs durch Parteien vermittelt.« [3]

Genau diese Geborgenheit ging durch die beschriebenen Veränderungen und durch die mangelnde Fähigkeit der SPÖ, sich den neuen Bedingungen anzupassen, sich im Sinne ihrer Traditionen und Programme zu verändern, weitgehend verloren. Und was noch übrig geblieben war, kam mit dem Beitritt Österreichs in die EU in den frischen Wind der wirtschaftlichen Erneuerung. Während die SPÖ zuvor vielfach noch mit paternalistischer Politik das Schlimmste verhindern konnte – etwa die Freisetzung ganzer Belegschaften im Fall der Pleite regional bestimmender Unternehmen – ging diese Möglichkeit durch Bestimmungen der EU verloren. Auch das musste den Eindruck bei vielen erzeugen, die SPÖ interessiere sich nicht mehr für ihr Schicksal. In dem Umfang, in dem die SPÖ die Funktion, Geborgenheit zu organisieren,  nicht mehr erfüllen konnte oder wollte, ist Raum für populistische Alternativen entstanden – als deren zugleich zweifache Chance: Das offensichtliche Versagen, eine Politik zu betreiben, die Geborgenheit, die soziale Sicherheit bietet, konnte (damals) von Haider benützt werden, um zu zeigen, dass »die Roten« lügen, ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden. Wann immer solch ein Beweis gelingt, ist der die Grundlage für ein Freispiel der Populisten. Die brauchen dann kein besseres Programm vorzulegen – es reicht wenn sie zeigen können, dass die anderen ihr eigenes Programm verraten oder lügen, dann gelten die Populisten als Überbringer von Wahrheit, dann gelten sie als die glaubwürdige Alternative – und das ganz ohne Risiko, ihrerseits wegen Verstoßes gegen ihre Grundsätze kritisiert zu werden. Den Luxus von Grundsätzen leisten sie sich nicht.

II. Anforderungen an die Politik der SPÖ

Politik der SPÖ muss Geborgenheit bieten
Gerade in der Funktion, Geborgenheit im Sinne von sozialer Sicherheit und von Sicherheit vor Kriminalität usw. zu bieten, ist die SPÖ in den zurück liegenden zwanzig bis dreißig Jahren einiges schuldig geblieben. Als es darum gegangen wäre, die Politik der wirtschaftlichen Öffnung hin zur EU oder überhaupt die Integration der österreichischen Wirtschaft in die Weltmärkte, die sogenannte Globalisierung der Wirtschaft, mit Maßnahmen zu begleiten, die die Verlierer dieser Modernisierung zumindest ansatzweise schadlos gehalten hätten, hat auch die SPÖ vielfach gefehlt. Und das, obwohl solche Politik einmal die Stärke einer sozialdemokratisch inspirierten Wirtschaftspolitik war, bei der die SPÖ und starke Gewerkschaften Hand in Hand für Modernisierung unter Bedingungen sozialer Sicherheit eingetreten sind – für Geborgenheit für den Großteil der Bevölkerung. Hinzu kommt aber noch, dass die Menschen auch in Österreich mitverfolgen können, dass zugleich mit der zunehmenden Globalisierung und Wettbewerbsorientierung der Wirtschaft sowie einer neoliberal ausgerichteten Politik, zu der es angeblich keine Alternative gibt, die Reichen immer reicher werden und der Mittelstand wirtschaftlich stagniert. Wenn dieser Trend auch noch durch eine Steuerpolitik zugunsten der großen Unternehmen begleitet wird, dann verliert nicht nur die SPÖ Zustimmung, weil sie sich als unfähig erweist, wirksam Politik für ein faires Wirtschaften zu betreiben. Es verliert auch das Ansehen von Demokratie, wenn von den gewählten Volksvertretern so offensichtlich Politik gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung gemacht wird. Insgesamt ist damit ein Prozess des Vertrauensverlustes in die demokratische Politik und insbesondere in die Sozialdemokratie beschrieben. Die SPÖ hat gegen ihre Grundsätze  die  im Regen stehen gelassen, die nur mit Unterstützung durch eine entsprechende Politik faire Chancen bekommen können, die, die nicht zu den Gewinnern zählen. Wenn dieser Vertrauensverlust aufgrund der »großen Politik«, der Enttäuschung über den Mangel an gestaltender Politik zugunsten der Verlierer, auch noch mit Beobachtungen zusammentrifft, die zeigen, dass die Führer oder ehemaligen tonangebenden Persönlichkeiten der Partei nach dem Ende ihrer politischen Funktionen ein Leben führen, das der Situation der meisten Menschen geradezu Hohn spricht, dann schadet das noch zusätzlich.

Die SPÖ muss lernen, mit den Folgen ihrer Erfolge umzugehen
Freilich gibt es auch demografische Entwicklungen zum Nachteil der sozialdemokratischen Parteien oder zumindest solche, die mit neuen Herausforderungen verbunden sind: der Anteil der Arbeiter, insbesondere der ursprünglichen Kernschicht der Sozialdemokratischen Parteien, der Facharbeiter in der Industrie, ist deutlich geschrumpft. Erfolg sozialdemokratischer Politik hat zum Aufstieg breiter Schichten in den sogenannten gesellschaftlichen Mittelstand geführt. Und deren Angehörige sind in ihren Interessen wesentlich vielfältiger aufgestellt als ihre Eltern. Um diese Schicht zu erreichen und zu gewinnen, hat die SP vielfach Positionen vertreten, die ihrer ursprünglichen Anhängerschaft den Eindruck vermittelten, sie sei nicht mehr wichtig, ihre Bedürfnisse würden nicht mehr gesehen und ernst genommen. Das ist aber bloß die eine Seite des Problems, das sich an den Wahlurnen zeigt: Insbesondere in Wien hat die SPÖ eine sehr erfolgreiche tendenziell grüne Politik gemacht und damit weite Teile der Bezirke innerhalb des Gürtels kultiviert – mit der Konsequenz, dass sich dort vor allem Gebildete und vielfach auch gut Verdienende niedergelassen haben, die heute grün wählen – nicht weil es die Grünen gewesen wären, die diese nun sehr lebenswerten Bezirke zu dem gemacht habe, was sie jetzt sind, sondern aus dem Lebensgefühl heraus. Und so wird die SPÖ von beiden Seiten bedrängt – von recht durch FPÖ, Strache und die türkise Ausprägung des Migrationspopulismus und links durch die Grünen.

III. Glaubwürdigkeit an der Basis aufbauen

Vertrauen will gewonnen, will verdient werden. Und das geht nicht schnell, weil entsprechende Erfahrungen gemacht werden müssen, die dann Vertrauen rechtfertigen. Jetzt ist schon diese Forderung schwer genug zu erfüllen. Hinzu kommt aber noch die gegenwärtige Situation der SPÖ, aus der heraus nicht so bald eine neuerliche Regierungsbeteiligung oder gar Führung einer Regierung zu erwarten ist, die es erlauben würde, sozialdemokratische Politik zu machen und so spürbar zu machen, dass die SPÖ ihre Lektion gelernt hat und wieder Vertrauen verdient. Durch bloßes Reden aber wird keine Basis gelegt werden können, von der aus die SPÖ wieder aufsteigen könnte [4]. Allerdings könnten die Landesparteien in den Bundesländern, in denen sie über eine absolute Mehrheit verfügen, in besonderer Weise versuchen, zu zeigen, was sozialdemokratische Politik für die Menschen zu bieten hat – darin dem historischen Beispiel des Roten Wien in der Zwischenkriegszeit folgend. Auf die Landeshauptleute Doskozil und Kaiser kommt so eine besondere Verantwortung zu, die über das jeweilige Bundesland hinaus geht.    

Exkurs: Die Mitgliederbefragung
Standardpositionen der SPÖ abzufragen und nur Antwortkategorien anzubieten, die diese Positionen entweder als »sehr wichtig« oder »weniger wichtig« bewerten, und das noch Mitbestimmung der Mitglieder zu nennen verhöhnt den Begriff der Mitbestimmung und ist bloß Geld- und Ressourcenverschwendung. Diese Befragung bewegt nichts. Allenfalls nützlich hätte es sein können, die eigenen Mitglieder danach zu fragen, was sie denn von den konkret geplanten Maßnahmen der türkis-grünen Bundesregierung halten. Denn da wären unter Umständen auch Punkte sichtbar geworden, bei denen es nicht bloß harsche Ablehnung, sondern vielleicht auch vorsichtige Zustimmung geben könnte. Das würde dann eine differenziertere Oppositionspolitik erlauben. Aber: Chance versäumt. Und die Frage nach der Zustimmung zur Parteivorsitzenden ist weitgehend sinnlos. Selbst eine sehr positive Antwort auf diese Frage bewahrt Pamela Rendi-Wagner nicht davor, bei einem der nächsten Parteitage abgewählt zu werden. Denn sie hat leider ihr Pulver weitgehend verschossen, indem sie – Konsequenz der mangelnden Erfahrung in der Politik – sich problematischen Beratern ausgeliefert und dadurch ihre Authentizität verloren hat. Die Parteivorsitzendenfrage könnte aber auch negativ ausgehen. Dann stünde die Partei wenige Monate vor der auch für die Bundes-SPÖ entscheidenden Wiener Wahl ohne Führung da. Tolle Perspektive. Die Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang die SPD und nun auch die CDU in Deutschland vor unseren Augen machen bzw. bereits gemacht haben, lassen erahnen wie   kräfteraubend solche Situationen sind. Zurück zur Frage der Perspektiven.

Politik heißt tun, nicht bloß reden
Wie aber soll aus der heute gegebenen Situation heraus wieder gestaltende sozialdemokratische Politik möglich, wie kann der Weg zurück zur politischen Relevanz gefunden werden? Ich behaupte: dazu ist zunächst ein anderes, ein neues Verständnis von Politik nötig. Besonders in der heutigen prekären Lage der Partei wird deutlich, dass unser Verständnis von demokratischer Politik, von demokratisch legitimierter Besorgung der Staatsgeschäfte, verstanden als Besorgung der gemeinsamen Angelegenheiten durch einige gewählte Polit- bzw. Staatsfunktionäre, zu kurz greift. Es ist gerade diese Sichtweise, die die Situation aussichtslos erscheinen lässt.  An der Besorgung der gemeinsamen Angelegenheiten ist die SPÖ auf Bundesebene jetzt auf lange Zeit nicht beteiligt. Und mit der Wahrnehmung der Kontrollfunktion ist gegenüber einer Regierung, die (vorläufig noch) von einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung getragen ist [5], nicht leicht zu punkten.  Es bliebe vielleicht noch der Versuch, potentielle Wähler und Wählerinnen mit einer alternativen politischen Erzählung zu gewinnen. Aber auch da geht es zunächst bloß um ‚reden‘ und um Aktivität einer Funktionärsschicht. Und mit der Beschränkung der FunktionärInnen auf bloßes kritisieren ist schon erst recht nichts zu gewinnen. Daher bleibt die Frage, ob eine Partei unter diesen Bedingungen überhaupt noch Möglichkeiten hätte, durch Tun in der politischen Arena zu überzeugen, durch aktives Tun im Bereich von Brennpunkten der Interessen der angestrebten WählerInnen zu punkten. Oder zugespitzt: Ob es nicht allenfalls die einzige wirkliche Chance ist, aus der praktischen Bedeutungslosigkeit wieder in die sogenannte »große Politik« aufzusteigen, wenn sich die Partei von Grund auf erneuert, wenn sich ihre FunktionärInnen und ihre Mitglieder vor Ort an Problemlösungen im Alltag beteiligten, um an praktischen Beispielen zu zeigen, wofür sie steht.

Etwas tun im gesellschaftlichen Feld
Ich selbst bin anders politisch sozialisiert, als die meisten anderen SPÖ-Funktionsträger. Ich bin erst spät – mit 29 – in die Partei eingetreten, hatte mich aber bereits davor an mehreren Projekten beteiligt, die darauf abzielten, praktische Verbesserungen im gesellschaftspolitischen Bereich zu erzielen. Da gab es ein Projekt zur besseren Betreuung von jungen in Wien lebenden Drogensüchtigen, ein Projekt einer betreuten Wohngemeinschaft für schwierige männliche Jugendliche in St. Johann im Pongau, ein Projekt zur Betreuung und zum Schutz von Jugendlichen in der Arena, dem im Sommer 1976 besetzten Auslandsschlachthof in St. Marx. Alle diese Projekte waren im besten Wortsinn politische Projekte und prägten mein Bewusstsein von Politik. Genau diese Art von Politik – Projekte der realen Veränderung – wird es nach meiner Überzeugung aber in den nächsten Jahren brauchen, soll die SPÖ  wieder Vertrauen bei denen genießen, die auf Politik angewiesen sind, um in dieser Gesellschaft faire Chancen zu haben. Das sind keineswegs nur die Verlierer der Globalisierung oder der Digitalisierung der Wirtschaft. Zu den Zielgruppen der erneuerten SPÖ werden auch start ups und deren Betreiber gehören, die auch immer wieder Rat und Begleitung brauchen können. Zielgruppen der SPÖ sind seit dem Parteiprogramm 1998 all jene, die ihren Lebensunterhalt durch ihre eigene Arbeit sichern.

Freilich waren meine Projekte doch sehr wesentlich durch meinen jeweiligen Beruf bedingt und mitunter auch schon recht komplex. Sie wären nicht unbedingt Beispiele, die jeder oder jede engagierte Person beginnen könnte oder sollte. Aber es gibt auch einfachere Projekte, die wesentliche Probleme zu lösen beitragen: Ein solches Projekt  berichtet die Presse am Sonntag am 9. Februar 2020 – die Einrichtung einer Einsamkeits-Hotline durch eine siebzigjährige Frau, der er es gelungen ist, genügend MitstreiterInnen zu finden, um einen täglichen Telefondienst von früh bis 22 Uhr anzubieten und zu besonderen Festtagen (Weihnachten, Silvester, …), an denen das Leiden an Einsamkeit seinen Höhepunkt erreicht, die ganze Nacht über. Das Engagement bei dieser Hotline ist ehrenamtlich, das Angebot wird sehr gut angenommen und hilft beiden Seiten – den »Kunden« gegen die Einsamkeit und den AktivistInnen zu einer sinnvollen Aufgabe.  Auch das eine gesellschaftspolitische Aktivität, die anders kaum oder nur mit hohen Kosten angeboten werden kann und die ein Problem, das in einer alternden Gesellschaft zunehmend Bedeutung erlangt, kostengünstig und unmittelbar zu lösen geeignet ist. Ein Projekt für mehr Geborgenheit in unserer Gesellschaft. Mir fällt dazu noch ein weiteres Beispiel aus meiner Tätigkeit ein: Einige Jahre war ich im Verein für Konsumenteninformation (VKI) als Wohnrechtsberater – am frühen Abend nach meiner Arbeit in der Arbeiterkammer – aktiv. Was damals auffiel war, dass vielfach das wohnrechtliche Problem bloß vorgeschoben war, um mit jemandem sprechen zu können. Und eine solche Rechtsberatung hat für die, die sie aus Gründen ihrer Einsamkeit oder wegen anderer psychischer Notsituationen aufsuchen, den Vorteil, sich nicht als »Patient« definieren zu müssen. Die Ratsuchenden konnten ihr Selbstbewusstsein dadurch aufrechterhalten, dass sie den Schein erweckten, sie kämpften um ihr Recht, aber gleichzeitig ein anderes Bedürfnis befriedigen.

Erste Annäherung an ein Modell
Den täglichen Morgeninformationen des Think Tanks »Momentum« verdanke ich ein Modell, das dem schon sehr ähnlich ist, was ich mir als möglichen Lösungsansatz für die darniederliegende Sozialdemokratie vorstellen könnte. Unter der Überschrift »Besser geht doch« findet sich folgender Kurzbericht über ein Projekt im Vorfeld von Gesundheitsinstitutionen (an gleicher Stelle kann auch ein ausführlicherer Bericht auf Englisch [6] abgerufen werden):

»Viele PatientInnen brauchen nicht nur medizinisches Know How, sondern vor allem mentalen Beistand und soziale Kontakte. In Frome, einer Kleinstadt in Großbritannien, gründete die Allgemeinmedizinerin Helen Kingston deshalb ein solidarisches Hilfsnetzwerk. Das organisiert Gemeindemitglieder, die anderen bei der Bewältigung verschiedenster Herausforderungen helfen. Egal ob Selbsthilfe-Gruppen, Tratsch-Cafés oder Einkaufs und Haushaltshilfen für ältere Menschen. Was fehlte, war die Verbindung von staatlichen Gesundheitseinrichtungen zu den jeweiligen Vereinen, Einrichtungen oder individuellen Gruppierungen. Kingston hat dies geschaffen. Seither landen 20 Prozent weniger Menschen als in vergleichbaren Städten in der Notaufnahme und es wird im Gesundheitsbereich gespart. Gleichzeitig wurden alle Menschen glücklich und gesünder. Ein Erfolgsrezept!« [7]

Worum geht es bei diesem Modellprojekt: auch hier sollen Probleme gelöst oder gelindert werden, die durch staatliche Maßnahmen entweder nicht oder nur zu sehr hohen Kosten gelöst werden könnten. Es nehmen, vermittelt durch ein Bürgernetzwerk, Bürger und Bürgerinnen Aufgaben wahr, die das Leben in diesem Ort lebenswerter machen und letztlich eine Form der Solidarität entstehen und spüren lassen. Wären Projekte dieser Art zu relevanten Themen nicht eine Möglichkeit der Sozialdemokratie, sich dem eigenen inhaltlichen Politikverständnis entsprechend wieder aufzurichten, neues Vertrauen durch sozialdemokratische Praxis zu gewinnen?

Noch ein Blick zurück – und einer voraus
Das Schlimmste, das mir in meiner Zeit als Politiker passieren konnte, wenn ich bei politischen Veranstaltungen Referate hielt und anschließend mit den Zuhörern diskutierte, war, dass eine besonders engagierte Person mich fragte, ob sie nicht in der Partei mitarbeiten könnte. Vor meinem geistigen Auge erschien augenblicklich das Bild einer der Sektionen meiner Bezirksorganisation und der Reaktion ihrer meist langjährigen Mitglieder auf die bzw. den Neue/n. Es wäre wohl nur zu einem einzigen Besuch gekommen und für die betroffene Sektion wäre die Störung nur von kurzer Dauer gewesen. Da braucht es Änderung.

Ich gehe davon aus, dass es für viele der heutigen (vielfach bloß Karteikarten-) Sektionsmitglieder kleiner Bezirksorganisationen der SP geradezu eine Freude wäre, eine konkrete und lösbare Aufgabe zu bekommen, auszuschwärmen und Menschen aus dem Bezirk kennen zu lernen, ihnen zuzuhören und sie in der einen oder anderen Weise zu unterstützen. Und auch für interessierte »Neue« wäre das vermutlich recht attraktiv. Das Projekt aus Frome nennt Beispiele. Aufgabe der Bezirksorganisationen der Partei könnte es sein, professionelle Organisationshilfe zum Aufbau eines Netzwerks zu leisten, und im Lauf der Zeit Menschen zu gewinnen, die sich an diesen Aktionen beteiligen möchten; und ihnen eine Kurzeinführung über bestehende Ansprecheinrichtungen usw. zu geben. Wöchentliche Besprechungen zu den Erfahrungen und Problemstellungen könnten den Aktivisten helfen, ihre Aufgaben besser zu bewältigen. Kurz: im Rahmen des aufzubauenden Netzes sollten auf dessen einer Seite vorhandene Institutionen bzw. deren Vertreter angesprochen und eingebunden werden und auf dessen anderer, nach außen, zu den BewohnerInnen des Bezirks hin orientiert, die Mitglieder und zusätzliche Freiwillige. In vielen Fällen werden für diese Aktivitäten auch Alleinstehende gewonnen werden können, die geradezu solche Aufgaben gut brauchen können, um ihre eigene Einsamkeit zu überwinden.

Im Konzept von Frome gibt es einesteils, je nach ihrer Funktion und Aufgabe, »Community connectors« (Gemeinschafts-Verbinder) oder »Health connectors« (Gesundheits-Verbinder), weil dort der Kern der Aktivitäten und die Gründungsidee im Bereich der Gesundheitspolitik gelegen war. Die Einen haben vor allem kommunikative Aufgaben – vor allem zuzuhören –, die Anderen schon etwas speziellere im Vorfeld des Gesundheitswesens und im Kontakt mit diesem. Zur Unterstützung dieser Aktivisten finden regelmäßige Besprechungen mit Fachleuten statt. Das Projekt von Frome hat inzwischen Nachahmer in Canada, Schottland, Australien und einigen Teilstaaten der USA gefunden.

Was die SPÖ am dringendsten braucht – Wiederaufbau von Vertrauen
Bei dem von mir vorgeschlagenen Projekt zur Erneuerung des Vertrauens und der personellen Basis der SP reicht es nicht, große Programme vorzulegen oder über den Parteivorsitz unter den Parteimitgliedern abzustimmen. Und es geht auch nicht um kurzfristige Aktivitäten – wie bei einem Einsatz vor einer Wahl –, sondern um gesellschaftspolitisches, auf Dauer angelegtes Engagement zur Lösung von wahrgenommenen Problemen und Herausforderungen. Ohne solche Einlassung ist keine Wiederherstellung des Vertrauens möglich. Um diesen Weg zu beschreiten braucht es zuallererst jemanden in der jeweiligen Bezirks- oder Ortsorganisation, der bzw. die in der Lage ist, Leben, – mehr noch – Begeisterung in die erstarrte Struktur der Partei zu bringen [8], Begeisterung für die gesellschaftspolitische Arbeit, für das Engagement in der wirklichen Welt, für das gesellschaftspolitische »Tun«, statt bloßer Reden, statt bloßen »Motschkerns« im vertrauten Kreis der Sektionen.

Es geht bei dem hier vorgeschlagenen Konzept auch nicht um die Vermittlung politischer Slogans sondern um praktisches Engagement zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen. Dieses Programm – in die Fläche getragen – müsste in wenigen Jahren eine neue und starke Basis schaffen, die überdies den Vorteil hätte, dass die Mitglieder wirklich selber aktiv sind und dafür sorgen, dass ihre Organisation nicht nur Mut, sondern auch stolz macht. Erfahrene Solidarität, am Inhalt und der Art des Engagements erkennbar als Sozialdemokratische Basisarbeit.

Fußnoten

[1] Vgl. dazu Caspar Einem: Gegenwind. Auf der Suche nach der sozialdemokratischen Identität. Wien 1998, insbesondere Seiten 57ff.
[2] Was weder ich noch die einladende SPÖ Floridsdorf wussten: drei Wochen später war ich Staatssekretär im Bundeskanzleramt.
[3] aaO, Seite 57.
[4] Diese Feststellung trifft leider auch auf die ansonsten überzeugenden Überlegungen des Kärntner Landesparteivorsitzenden und Landeshauptmannes Peter Kaiser zu. Vgl. dazu Peter Kaiser: »Einen sozialdemokratischen Aufbruch«, in ZUKUNFT 12/2019, Seiten 6ff. Es fehlt der Vorschlag von Schritten hin zum Tun.
[5] Vgl. dazu den Bericht im STANDARD vom 10. Februar 2020 auf Seite 8 unter der Überschrift »Anhaltend gute Stimmung für türkis-grüne Regierung«. Sowohl in der Kanzlerfrage als auch in der Bewertung der Oppositionsarbeit liegt die SP und ihre Vorsitzende mit 9% an letzter Stelle.
[6] Vgl. QUARTZ, »How a small British town used social connections to make residents happier and healthier«, December 3, 2019 bei Jenny Anderson, Senior reporter, Editor of How to be Human.
[7] Aus Moment.at von Freitag, dem 7. Februar 2020 (moment@getrevue.co).
[8]Wahrscheinlich wäre es sogar sinnvoll, vielleicht sogar notwendig, die hier vorgeschlagenen Aktivitäten zunächst in einer ausgelagerten Gesellschaft oder einem gesonderten Verein unterzubringen. Für eine Mitgliedschaft oder auch bloß Mitarbeit in der sozialdemokratischen Partei sind beim derzeitigen Zustand der SPÖ nicht nur in manchen Regionen Österreichs, sondern auch in manchen Altersgruppen kaum Menschen zu gewinnen.

Essay, Fazit 161 (April 2020), Foto: Michael Thurm

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