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Einkaufen wie anno dazumal

| 26. März 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 161, Fazitportrait

Foto: Heimo Binder

Auch wenn der Ururgroßvater Wolfgang Adam Schmidt als gelernter Bürstenmacher seine Produkte in der Rösselmühlgasse noch selbst hergestellt hat, zählt auch die heutige, oft archaisch anmutende Handelsware des Familienunternehmens zu den guten Dingen, über die man froh ist, dass es sie noch gibt.

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It’s just a jump to the left. So beginnt der »Time Warp« im Musical Rocky Horror Picture Show, der Zeitsprung. And then a step to the right. So ähnlich fühlt man sich am Beginn der Rösselmühlgasse, kurz nachdem sie aus dem Griesplatz stadtauswärts entspringt, an der Ecke Grenadiergasse. Ein großes dreistöckiges Gebäude aus den Fünfzigerjahren, das Geschäftslokal im Parterre mit Stein verkleidet, die Aufschrift im Stil der Zeit mit Neonröhren: W. A. Schmidt, Bürsten, Pinsel, Korbwaren. Auch die Auslagen wie aus der Zeit gefallen. Gegenüber das A1-Hochhaus, die oberflächlich getunte ehemalige Post. Davor ein Wegweiser nach St. Leonhard und Geidorf, fast so rätselhaft, wie jener, der seinerzeit am Geidorfplatz nach Budapest wies, vielleicht auch in den Fünfzigerjahren? With your hands on your hips. Etwa doch ein Zeitsprung? Mitnichten, die Zeit scheint hier nur stehengeblieben zu sein. Ein Geschäftslokal, das sich seit Jahrzehnten nicht verändert hat und Waren anbietet, die es sonst kaum mehr gibt in einem Umfeld, das sich umso stärker gewandelt hat. Vom Rotlichtviertel zu Klein-Istanbul, wie der Volksmund sagt. An der hoch aufragenden Feuermauer auf der Westseite des Gebäudes prangt noch immer die Firmenaufschrift mit dem Zusatz »Bürsten- und Pinselfabrik«, hoch genug, dass die Sprayer nicht hinkommen. »Fabrik« ist es keine mehr, das galt nach der Gründung des Unternehmens im Jahr 1852 durch Wolfgang Adam Schmidt vor allem in Zeiten mit bis zu sechzig Mitarbeitern während des Zweiten Weltkriegs, als im Innenhof die Bürstenhölzer von Hand gefertigt wurden und Frauen die Borste kämmten, bündelten und mit Soda auskochten. Auch in der Zeit davor schlug die Stundentrommel anders als wir es heute gewohnt sind.

Per Rad nach Rußland
So begab sich Wolfgang Heinrich Schmidt, der Sohn des Gründers, eines Tages mit dem Fahrrad auf die Suche nach Einkaufsmöglichkeiten für Borsten und fuhr bis Rußland. Davon zeugen heute noch zwei Ehrenurkunden vom Steirischen Radfahrer Gauverband im Geschäftslokal, die besagen, dass er als Mitglied des »Grazer Bicicle Clubs vom Jahre 1894« im Jahr 1897 7071,5 Kilometer und zwei Jahre später 6600 Kilometer zurückgelegt habe. »Nach sechs oder sieben Monaten ist er dann wieder zurückgekommen«, weiß der heutige Seniorchef Dieter Wolfgang Schmidt, der mit achtzig Jahren noch dreimal pro Woche im Geschäft und seinem Sohn Christian Wolfgang Schmidt, der die fünfte Generation verkörpert, zur Seite steht. Auch dessen Großmutter, Ilse Oberhuber, war als legendäre Chefin sehr lange Zeit aktiv und fuhr noch mit 89 Jahren auf die Fachmesse nach München, was heute, zehn Jahre danach, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist.
Legendär ist die Geschäftsfrau auch geworden, weil sie die Bürstenfabrik buchstäblich aus dem Schutt des Zweiten Weltkrieges wiederaufgebaut hat. 1944 stirbt ihr erster Mann auf Heimaturlaub in Graz bei einem Bombenangriff auf den Hauptbahnhof. »Mein Vater war bei der Marine und ist in einem Luftschutzkeller am Bahnhof wegen eines Wasserrohrbruchs ertrunken«, erzählt Dieter W. Schmidt. Dann zerstört eine Bombe das Geschäftshaus in der Rösselmühlgasse, aber seine Mutter schafft das Unmögliche und der Wiederaufbau gelingt. »In den Fünfzigerjahren war auch bei den Kunden das Geld da, und sie haben eingekauft«, erinnert sich Schmidt, dessen Mutter später den Maler Peter Richard Oberhuber geheiratet hat.

Foto: Heimo Binder

Produktion nur von Spezialbürsten
Die Produktion der Holzware – Bürsten und Pinsel – lief schließlich bis zum Jahr 1994. Seit damals ist das Unternehmen eine GmbH und Christian W. Schmidt der Geschäftführer. Der Betrieb hat fünf Mitarbeiter und produziert noch gedrehte Bürsten mit Drahtstielen. Der Sechsundfünfzigjährige freut sich besonders über die Aufträge aus der Glasindustrie, die gedrehte Bürsten mit speziellem hitzebeständigen Baumwollbesatz benötigt. Da die Temperaturen bei der Glasherstellung sehr hoch sind, verlangt die Industrie ständig Nachschub. Der alteingesessene Betrieb beliefert sowohl den Großhandel als auch den Einzelhandel, stellt aber auch für verschiedene Industriezweige Spezialbürsten her. Letztere sind Sonderanfertigungen, die entweder nach eigenen oder nach vorgegebenen Plänen konstruiert werden. Komplizierte Anforderungen raffiniert zu lösen, zählt dabei zur Spezialität des Hauses. Während der Großhandel durch die Online-Konkurrenz leidet, bleibt der Einzelhandel weitgehend stabil und mit den Spezialbürsten für die Industrie bedient man sogar eine Marktnische. Dieter W. Schmidt: »Man muss bedenken, wo überall Bürsten benötigt werden.« Tatsächlich brauchen die meisten Maschinen Bürsten, egal ob Bäckereimaschinen, Verpackungsmaschinen, Aufzüge oder Waschanlagen für Kürbisse. So zählen auch Industriebetriebe wie Sappi, Magna oder Siemens zu den Kunden des 168 Jahre alten Unternehmens. – Das sich aber nicht gern in die Karten beziehungsweise die Produktion schauen läßt. Schließlich seien auch geheime Bundesheeraufträge dabei.

Interessierte Jugend
An all das denkt der Einzelkunde so gut wie gar nicht. »Irgendwann kommen alle«, ist sich der Seniorchef gewiss. Es gibt viele ältere Stammkunden, die einerseits auf Gewohntes nicht verzichten wollen, andererseits erkennen und akzeptieren, dass gerade natürliche Produkte ein ebenso natürliches Ablaufdatum haben. Und junge Kundschaft fühlt sich offenbar immer mehr dem Umweltbewußtsein verpflichtet und entdeckt nicht zuletzt im Zuge der Klimaproblematik den Nachhaltigkeitsgedanken neu. »Nur der Mittelbau fehlt«, meint Schmidt, »die Plastikgeneration, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren geboren wurde.« And bring your knees in tight. Von Borste war also die Rede. Damit sind immer Schweinsborsten gemeint. Im Gegensatz zum Haar – das sind die anderen. Tiere. Tatsächlich gibt oder gab es auch Bürsten mit Menschenhaar, das ist heute aber unüblich geworden. Als Laie kennt man gerade noch das Rosshaar für Besen, das im Übrigen gegenüber Kunststofffaser den Vorteil hat, sich und die zu kehrende Fläche nicht statisch aufzuladen und den Staub oder »Lurch« nicht wegzuschleudern. Schon der bloße Anblick der rund 20.000 Waren löst eine Art ästhetischen Reflex aus, der mehrere Sinne aktiviert. Holz, Naturborste und -haar, Federn, Luffagurke, Wurzelfasern, Palmenfasern laden nicht nur zum Staunen, sondern auch zum Riechen und Berühren ein. Und werfen so manche Frage auf. Bei Reisstroh fällt mir die Zeit ein, als wir noch lange Haare hatten und »Reisstrohmatten« auf die kalten Böden legten – wahrscheinlich um den Staub gefangen zu halten. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine falsche Bezeichnung. Reisstroh stammt von der Sorghumhirse, aus deren Rispen Besen gemacht werden. But it‘s the pelvic thrust, that really drives you insane! So erfahren wir auch, dass es sich bei Kamelhaar in Wirklichkeit um Ponyhaar handelt – etwa für den typischen Schulpinsel. Die gelben hitzebeständigen Tampico-Fibre-Bürsten werden aus den Fasern der Agave gemacht, die biegsamen »Wunschbürsten« mit Kurbel zum Reinigen von tieferen Gefäßen wie Flaschen, aus Schweineborsten.

Foto: Heimo Binder

Putzen als Therapie
Die unzähligen Korb- und Flechtwaren, ein weiteres Standbein des Familienbetriebs, die Staubwedel aus Straußen- oder Truthahnfedern, die buchenen Kochlöffel aller Größen und Sorten, vor allem aber tausende verschiedene Bürsten, Pinsel und Besen vermitteln vordergründig den Eindruck, als wäre auf  diesen insgesamt fast 200 Quadratmetern Geschäftsfläche die Zeit vor der Erfindung von Kunststoffen oder Computern stehen geblieben. In einem Erlebnisbericht würde wohl stehen: einkaufen wie gestern. So gibt es konsequenterweise auch keine Webpage oder Einträge in »Soziale Medien« wie Facebook und Co. Und auch keine Werbung. Dass Bürsten und Besen Haushaltsgegenstände sind, die in der Regel eher ein bescheidenes Dasein fristen, ist nachvollziehbar – Putzen gehört nicht gerade zu den beliebtesten Beschäftigungen. Andererseits gilt es als gesichert, dass es ein vorzügliches Therapeutikum zum Abbau von Stress und Traurigkeit sein soll. Das richtige Maß und gute Qualität der Reinigungsgeräte vorausgesetzt. So let‘s do the time warp again!

Bürsten und Korbwaren GmbH
vormals W. A. Schmidt
8010 Graz, Rösselmühlgasse 4
Telefon +43 316 71120801

Fazitportrait, Fazit 161 (April 2020) – Fotos: Heimo Binder

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