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Erste postcoronale Erkenntnisse

| 29. April 2020 | Keine Kommentare
Kategorie: Editorial, Fazit 161x

Ob der Frühling 2020 als gelungener Kampf gegen eine gesundheitliche Katastrophe oder als die Zerstörung unserer wirtschaftlichen Lebensgrundlage in die Geschichtsbücher Einzug halten wird, werden wir erst in einigen Jahren mit Sicherheit sagen können. Aus heutiger Sicht ist das Vorgehen der österreichischen Bundesregierung, das Verhängen eines »Ruhemodus« über die Republik, eine sinnvolle und erfolgreiche Strategie. Die Zahlen der Erkrankungen, die aktuelle Übertragungsrate des Krankheitserregers und alle weiteren Statistiken zur Coronapandemie lassen diesen Schluss zu.

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Die Bilder aus Italiens Spitälern und dem oft am Rande der Verzweiflung arbeitendem Pflegepersonal, die Bilder der Militärtransporter dort, die die vielen Toten abtransportieren mussten, sind zwar erst wenige Wochen alt, trotzdem schon wieder aus der Erinnerung zahlreicher Kommentatoren in Funk und Facebook getilgt. Denn viele monieren nun, dass der Covid-19-Keim ja »nicht so schlimm« gewesen sei. Recht haltlos außer Acht lassend, dass es ja gerade der Lockdown war, der eine Situation wie in Italien verhindert hat. Am 28. April nun hat die Regierung die stufenweise Lockerung aller Einschränkungen ab sofort bekanntgegeben und auch hier wird erst die Zukunft zeigen, ob es zu einer zweiten Ansteckungswelle kommt, oder ob wir fürs Erste – sprich für dieses Jahr – über den Berg sind. Die Lockerungen sind unumgänglich, der Schaden, den unsere Wirtschaft schon bis jetzt genommen hat, ist in seiner Dimension einzigartig.

Nun bin ich noch viel weniger Virologe als ich Arzt bin und kann wenig inhaltlich zu Viren, deren Gefahr und Mitteln gegen Viren sagen. Was ich aber, und mit mir jeder Beobachter dieser Tage, treffen kann, ist eine neue Einschätzung der Begriffe »Fakten« und »Expertisen«.

Postcoronal kann man nämlich mit Fug behaupten, dass die – gerne als »eindeutig« ausgewiesenen – Naturwissenschaften so eindeutig nicht sind. Denn auch hier zeigt sich recht klar, dass die Mutter der virologischen Weisheit die Zeit bzw. der einzelne Wissenschafter und seine Überzeugung darstellt. Masken etwa wurden noch bis vor Kurzem von anerkannten wissenschaftlichen Instituten wie einzelnen Wissenschaftern als »unnütz« und »unwirksam« abgetan. Heute sind sie weltweit quasi verpflichtend. Durchseuchung und Herdenimunisierung ist für den einen Experten der Schlüssel zur Überwindung der Krise, für den anderen Teufelszeug. Oder auch nur die Kontaktbeschränkungen, die beispielsweise vom bundesdeutschen Innenministerium als »Fake News« rechter und rechtsextremer Kreise via Twitter heftigst dementiert wurden; zwei Tage (!) bevor diese in der Bundesrepublik verkündet worden sind. Undsoweiter undsofort. Postcoronal kann man sich also wenigstens einer Gewissheit erfreuen: drei Wissenschafter welcher Art auch immer ergeben mindestens sieben sicher hervorragend argumentierte Absolutheiten.

Was ich auch kann, ist auf das offensichtliche Versagen einiger internationaler Organisationen hinzuweisen. Wobei ich mir dieses »Versagen« gar nicht unbedingt mit »böser Absicht« erklären will. Der Mensch in all seinen Facetten ist nunmal vor allem eines: fehlbar. Etwa das der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wo sich ebenfalls auf deren Twitteraccount gut nachverfolgen lässt, wie falsch deren Einschätzungen betreffend Corona gewesen sind. Oder das der Europäischen Union, die wochenlang aus einer Schockstarre der Bedeutungslosigkeit nicht herausgekommen ist. Wenn man von einer Videobotschaft der Kommissionspräsidentin, wie man sich richtig die Hände wascht, absieht. Als strategische Koordinationszentrale aller – durchaus sinnvollerweise unterschiedlichen – regionalen Maßnahmen, ist die EU nicht oder bestenfalls viel zu spät in Erscheinung getreten. Die »Wissenschaft« an sich, all die europäischen Bildungsinstitutionen also, möchte ich – noch – nicht als Teil des Systemversagens sehen, wichtig erscheint aber (siehe weiter vorne), der zukünftige Umgang mit den Empfehlungen, die von dort kommen.

Und damit sind wir noch einmal bei der Bundesregierung und beim Lockdown. Was mich dabei am meisten »verunsichert« oder zumindest überrascht hat, ist die Tatsache, dass es nur eines Fingerschnipps (die Pressekonferenz von Sebastian Kurz, Rudi Anschober e.a.) bedarf, eine Gesellschaft in ihrer Freiheit so – bis vor wenigen Tagen noch unvorstellbar – einzuschränken. Nämlich einmal ungeschaut der Gründe, die zu einer solchen Situation führen. Dass die Bevölkerung im Grunde all das so konstruktiv mitgetragen hat, ist dabei das eine; das positive natürlich. Dass dies aber gleichzeitig gut vor Augen führt, dass eine Regierung sowas überhaupt kann, ist das andere. Das »Coronaparadoxon« für mich. In einem Radiointerview mit Ö1 wurde der Gesundheitsminister gefragt, ob die »drastischen Maßnahmen« nicht auch gegen die »Erderhitzung« möglich werden. Und tatsächlich hat Anschober folgendes geantwortet: »… ich freue mich darauf, wenn wir die Coronakrise überstanden haben, dass wir dann die Klimakrise mit einer ähnlichen politischen Konsequenz angehen werden.« Das halte ich – bei allem Respekt vor dem Minister und seiner ansonsten aktuell ordentlichen »Performance« – für eine gefährliche Bedrohung unserer Freiheit. Der etwa die aktuelle Justizministerin wenig entgegenhalten wird. Die hat sich in der gesamten Krise – neben einer hoffentlich sinnvollen Mieterschutzaktion – lediglich zur Gefahr von rechts und zur Gefahr von gewaltätigen Familienvätern zu Wort gemeldet. Dabei hätte es bei all den Schnellschussverordnungen viel Notwenigkeit zumindest zur Erklärung, zur besseren Kommunikation und auch besseren Legistik gegeben. Der in seiner Beliebtheit immer stärker steigende Kanzler – und ich bin froh, dass wir ihn haben! –, sollte langsam aber sicher darauf schauen, dass seine Regierungsmitglieder insgesamt mehr an Kompetenz gewinnen. Und das gilt natürlich auch für jene der ÖVP.

Editorial, Fazit 161x (Mai 2020)

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