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Ene, mene, muh und schwarz bist du

| 12. Oktober 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 186

Foto: PaperwalkerEin Essay von Maryam Laura Moazedi. Die Autorin outet »Rasse« als ein inkonsequent durchdachtes Konstrukt voller Unzulänglichkeiten
und Paradoxa. Und sie meint, »Rassismus« braucht keine realen Rassen, sondern bloß deren Fiktion.

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Mag. Maryam Laura Moazedi ist Universitätslektorin an der Karl-Franzens-Universität, Gastlektorin an der Filmakademie Baden-Württemberg, Werner-Herzog-Begeisterte, Art-Brut-Fan und einiges mehr. Ihre Arbeits- und Interessensschwerpunkte sind Diversität, Stereotypisierung, Ethnozentrismus und Alter als Konstrukt. moazedi.org

Er isst Porridge. Dem kleinen Mann nimmt er den Job und die letzte freie Wohnung im Gemeindebau, ist Billigkraft und Arbeitsverweigerer zugleich. Er will die weiße Frau und post mortem Jungfrauen im Paradies, seine unterdrückt er, er ist nicht so fortschrittlich wie wir. Sein Atem riecht nach Knoblauch, vermutlich importierter. Wenn er sich gerade nicht in die Luft sprengt, sitzt er als kleinkrimineller Drogendealer in straßengeraubten Sportschuhen im Gefängnis und als Schattengestalt in exzentrischen Lederschuhen im Großstadtbüro – des Filmklischees noch immer nicht müde: Katze auf dem Schoß streichelnd, diabolisches Lachen aus dem Off. Auf seinem Mahagonitisch sind die Pläne zum weltweiten Bevölkerungsaustausch ausgebreitet, daneben liegt die geheimbündische Anleitung »Wie Sie unbemerkt in sieben Schritten die Weltherrschaft an sich reißen« aufgeschlagen, eine Kristallkaraffe gefüllt mit Kinderblut blondgezopfter Zwillingsmädchen und ein goldener Kelch machen das Stillleben vollständig. Kinderblut, er trinkt ja keinen Alkohol, kennt kein savoir vivre, nicht einmal zu Silvester, vielleicht besser so, Jahreswechsel machen ihn immer so übergriffig. Größe und Form seiner Nase sind verlässliche Identifikationsmerkmale, ebenso Pigmentierung, Körperbau und Haarstruktur, außer sie sind es nicht. Wenn uneindeutig, wirft man Bleistifte in sein Haar, fühlt nach, ob die Ohrläppchen weich sind und beobachtet, wie ihm Wassermelone und Hühnerfleisch schmecken. Eine geringe Bildungsmobilität ist symptomatisch. Die minderjährige Tochter trägt demonstrativ Kopftuch, sicher wird sie bald heiraten. Der Vorname seines Sohnes verrät, dass er später Gemüse verkaufen will und in der Hauptschule gut aufgehoben ist. Nach der Schule besuchen sie Eliteuniversitäten an der Ostküste, um auf das dunkle Herrschen vorbereitet zu werden. Die Fäden zur Kontrolle über Banken, Hollywood, Echsenmenschen und Pandemien sollen an die nächste Generation übergeben werden.

Ene, mene, muh und schwarz bist du

Als der Jazzmusiker Vic Wilkinson 1934 in Südafrika zur Welt kommt, ist er weiß. Dann kommt Apartheid. Das System bedient sich der gesamten Klaviatur des Hauttons und dessen beliebiger Zuordnung, Wilkinson wird vom Staat als nicht-weiß und weiß re, re-, re- und reklassifiziert. Die offiziellen Entscheide orientieren sich situativ, werden davon abhängig gemacht, mit welcher »Rasse« er gerade verheiratet ist oder in welchem ethnischen Viertel er lebt. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr wechselt Wilkinsons »Rassenzugehörigkeit« fünf Mal, weil sich Frau und Wohnsitz ändern.

Apartheid in praxi ist eine nicht selten erratisch anmutende Kategorisierung von Menschen auf Basis der Erfindung Rasse und dem zugrundeliegenden menschenverachtenden Wertekanon. Das Konzept einer vordergründig systematisch wirken wollenden Taxonomie, die eine Hierarchie postuliert, an deren Spitze Weiß, damit auch die Rechtfertigung des weißen Herrschafts- und Kontrollsystems, muss lebensweltlich segregieren, Begegnungen im öffentlichen und privaten Raum reglementieren, damit, so der Wahn, reines Blut nicht unrein wird. Ausdruck findet diese Obsession in Züchtungsfantasien, Sexualneid und Gesetzen zum Verbot intimer Kontakte zwischen weiß und nicht-weiß. Die unveränderbar in der DNS festgeschriebene, mit dem Blut weitergegebene, biologisch determinierte Rasse – die weder biologisch noch Rasse ist – zeigt sich in einem der rassistischsten Systeme, wie im Südafrika der Apartheid, als fluid. Apologeten der Segregation verschieben die Demarkationslinie nach Ad-hoc-Bedürfnissen und halten zugleich an der Vorstellung fest, Rasse sei genetisch inhärent. Trotz des labilen Umgangs des Staates mit Klassifizierungen werden die Instanzen nicht destabilisiert, werden Übertretungen der »colour line« mit gewaltigem Impetus vorgebeugt bzw. bestraft. Stringenz ist in rassistischen Theorien und Praxen faktisch inexistent und deren Abwesenheit anscheinend kein Nachteil.

Von 1981 auf 1982 wechseln in Südafrika 997 Menschen ihre sogenannte Rassenzugehörigkeit, 1983 sind es 690 und 1984 sind es 795 Menschen. Wie Wunder werden Farbige weiß und schwarz, werden Weiße asiatisch, werden Schwarze farbig. Reale Menschen in fiktive Kategorien einzupassen, erfordert ein dehnbares Verständnis von genetischen und sozialen Determinanten. Phänotypische Merkmale, Sprache, Status und mehr, zudem deren Zusammenspiel, weichen von den Wunschvorstellungen im guten rassistischen Lehrbuch ab, es folgen aktionistische Ergänzungen veranlasst durch die vielen Ausnahmen und unzähligen Einzelfälle. Bis 1985 umfasst der Korpus der sogenannten Rassengesetze 3.000 Seiten. Eindeutiger werden die Kriterien für Festlegungen damit nicht, aber kurioser. So gilt – offiziell und keineswegs satirisch – als weiß, a) wessen Erscheinung offensichtlich weiß ist oder b) wer allgemein als weiß akzeptiert wird. Sind die Erkennungszeichen wenig augenscheinlich, wird aus Politik Fantastik, wird Zusammenhangsloses zur Gesetzmäßigkeit erhoben und in das Realitätssystem gepresst. Fällt ein Bleistift aus dem Haar, wenn man den Kopf schüttelt, ist man schwarz, nicht coloured. Weiche Ohrläppchen, Fußball und Essen verfärben die Wahrnehmung von Haut und Rasse ebenso und werden in verzweifelten Fällen zu Unterscheidungsmerkmalen, die Frage »Do you eat porridge?« zum müden Code einer konstruierten Zugehörigkeit und deren sadistischen Konsequenzen.

Wirtschaftliches Kalkül dehnt die konfusen Definitionen des Apartheid-Regimes weiter. So werden beispielsweise Japaner zu sogenannten Ehrenweißen, damit der Abschluss von Geschäften unter seinesgleichen möglich ist. Nicht frei von Zynismus können selbst schwarze Geschäftsleute zu Ehrenweißen werden, wenn sie aus dem Ausland stammen. Abends sind sie wieder mehr schwarz als ehrenweiß, Nachtlokale dürfen sie nicht betreten.

Der schönste Schädel

Eines perfekten Tages, über ihm der Himmel blau, die wohlplatzierten Wolken wohldosiert und wohlgeformt, bereist Johann Friedrich Blumenbach den Landstrich zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Es ist ein sonniger Tag, vermutlich der schönste in der gesamten Epoche der Romantik, der ihn in den Kaukasus führt, wo er den schönsten aller Menschen begegnet, geschaffen nach Gottes Ebenbild. Weder Ästhetik noch der eurozentrische Blick können irren. Hier, nur hier allein will und muss »das Vaterland der ersten Menschen« sein. Denn der georgische Mensch hat die schönste Schädelform und ist weiß.

1775 veröffentlicht Blumenbach die geografisch definierte Einteilung von Menschen aus Europa, Asien, Afrika und Nordamerika; in der zweiten Ausgabe spricht er von fünf Varietäten. In der dritten mutieren die geografischen zu generischen Etikettierungen, aus Menschen werden Rassen, werden Kaukasier, Mongolen, Äthiopier, Amerikaner und Malaien. Nach und nach wird kaukasisch zum Synonym für weiß und das weiß niemand besser als die Vereinigten Staaten. Denn dort sind Erhebungen zur Rasse integraler Bestandteil aller möglichen Formulare in allen möglichen Lebenssituationen. Viel Komplexitätsreduktion und noch mehr Revisionen dieser stecken hinter der Auswahl der schwarzgerahmten Kästchen, die doch so handlich wirken, der Mensch braucht nur das zutreffende Ich bzw. Wir anzukreuzen. Mit seinem Kreuz verlässt er seine Individualität, wird Repräsentant eines Kollektivs, befüllt das Viereck mit seiner Vergangenheit – Siedlerromantik oder Menschenhandel? – Gegenwart und Zukunft. Die Kästchen subsumieren, wer man ist, wo man herkommt, wo man hingehört, was einem das Leben bietet, oder nicht. Ob es um die Beantragung eines Kredits, die Bewerbung für das College oder Beschreibung der Stichprobe in empirischen Arbeiten geht, sie prägen und imprägnieren den US-amerikanischen Alltag, machen ihn für weniger rassenfixierte Alternativen undurchlässig. Die Kästchen dienen statistischen Zwecken, Bewusstsein und Förderquoten, meinen die einen. Sie verfestigen die Vorstellung von Rasse, perpetuieren Stereotype und wirken trennend, sagen die anderen, worauf die einen wieder meinen und mahnen, du sollst nicht farbenblind sein.

Seit 1790 will der Zensus Status quo und demografische Entwicklungen der US-amerikanischen Bevölkerung erheben, alle zehn Jahre findet die Volkszählung statt. Seit jeher fixer Bestandteil der Fragen sind jene zur Rasse, seit jeher mit großer Varianz in der Erfassung des Konstrukts. Gesellschaftliche Fort- und Rückschritte, politisches Klima, Zeitgeist und Paradigmen zu Integration, Rasse und Ethnizität, aber auch das persönliche Identitätsverständnis wirken sich auf Frage und Antwort aus. Und so spiegelt ironischerweise der Zensus eher das Gesellschaftsbild als den tatsächlichen Anteil von Rassen an der Population wider.

In der 1900 durchgeführten Volksbefragung, beispielsweise, wird erstmals auf die möchtegernpräzisen, rassistischen Kategorien quadroon (zu einem Viertel schwarz) und octoroon (zu einem Achtel schwarz) verzichtet. 1930 werden Mexikaner:innen mexikanisch, gelten sie davor als weiß, was sie 1940 auch wieder werden. Bis 1950 wird Rasse durch Fremdeinschätzung gelesen, ab 1960 sind Selbsteinschätzungen möglich, können die Befragten selbst ihre Rasse wählen, allerdings nur eine. Erst die Jahrtausendwende macht den Menschen mehrdimensional, im Jahr 2000 darf er sich für mehrere Kategorien entscheiden. Jüngste Änderungen am Zensus stehen in einem direkten Konnex mit der Entwicklung, dass sich mehr Befragte als weiß identifizieren, häufig in Kombination mit mindestens einer weiteren Zuschreibung. Trotz der Bemühungen um Verbesserungen und des erweiterten Antwortangebots will das Ziel nicht gelingen, Menschen biologistisch und/oder kulturell einzuordnen. In den letzten Jahren steigt die Zahl jener, die ihr Kreuz in das Kästchen »Some Other Race« setzen.

Rasse ist, was die Volkszählung erhebt. Und die Erhebung unterliegt dekadischen Stimmungen und Schwankungen. Methodische Variationen lassen keine Vergleiche – nicht einmal von 2020 mit 2010 – und Schlüsse auf Bevölkerungstrends zu, vielmehr sind sie Momentaufnahmen von Machtverhältnissen, Spannungen und Entspannungsversuchen. In diesem Licht wirken Dystopien und Hysterien à la »Großer Austausch« und »Weißer Genozid« noch realitätsbefreiter und noch jämmerlicher als sie sind. Doch Rassismus lebt von Projektionen, nicht von Fakten.

»Ich vermute, dass auf den Sklavenschiffen auch zum ersten Mal Menschen nach sogenannten Rassen kategorisiert werden. Die multiethnischen Afrikaner wurden als Tibo, Fante oder Mende an Bord gebracht. Aber bei der Ankunft wurden sie zu Mitgliedern der, unter Anführungsstrichen, N***rasse. Derselbe Prozess spielt sich parallel bei den Seeleuten ab. Diese bunt gemischten Mannschaften bestehen aus Engländern, Iren und manchmal auch Afrikanern. Sie verlassen ihre europäischen Häfen, aber wenn sie die Westküste Afrikas erreichen, werden sie zu den Weißen.«
Marcus Rediker

Aber immerhin: Der Zensus verzichtet auf den Begriff »Caucasian«, im US-amerikanischen Verständnis das Synonym für weiß. Dass sich kaukasisch eigentlich auf eine multiethnische Region bezieht, in der beispielweise Tschetschenen, Aserbaidschaner, Georgier, Armenier, Tscherkessen, Abchasen, Inguschen, Mingrelier, Swanen, Karatschaier und :innen leben, und dass die US-amerikanischen Weißen und selbsternannten »Caucasian« vor allem aus Deutschland, Irland, England, Italien, Polen, Frankreich, Schottland und der Niederlande abstammen, scheint dort nicht wirklich zu irritieren. Zu aller Beliebigkeit kommt hinzu, dass – invers zum US-amerikanischen Kontext – ausgerechnet »die Kaukasier« von russischen White-Power-Ideolog:innen, ihrer Hass- und Abwertungsdoktrin entsprechend, als »die Schwarzen« bezeichnet werden.

Der Finne und seine
asiatische Geisteshaltung

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zählt Minnesota zu den wichtigsten Bergbaugebieten des Landes. Bergbau bedeutet Arbeitsplätze für Einwanderer, etwa 85% der Minenarbeiter stammen aus Europa und Kanada. Und Bergbau bedeutet auch prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse, viel Arbeit, wenig Lohn, Unfalltod und Substandard-Wohnung. In der Zeit, Region und Branche ist die Oliver Iron Mining Company führend; sie ist als Unternehmen und Arbeitgeber besonders mächtig, eine Macht, die sich nicht von der Ohnmacht der Arbeiter entkoppeln lässt. Zugewanderte, die dringend eine Arbeit brauchen, haben weder Status noch Recht. Gewerkschaft ist Teufelszeug und jeglicher Versuch, Arbeitszeiten oder Löhne zu humanisieren wird von vornherein unterbunden.

1907 kommt es zu einem Streik, an dem zwischen 10.000 und 16.000 Arbeiter teilnehmen. Die Oliver Iron Mining Company lässt die Herkunftsländer der Streikenden überprüfen und kommt zum Schluss, dass zwar Menschen verschiedenster Nationen beteiligt sind, allerdings Finnen einen Anteil von 75% ausmachen. Finnen gelten fortan als »wenig integrationsfähige Ärgerbrüter«. Das Unternehmen stellt keine weiteren Finnen ein, viele stehen auf der Schwarzen Liste und bekommen keine Jobs mehr. Finnen seien gar nicht so europäisch, kursiert es, dieser Hang zum Sozialismus, dieser Hass auf Regierungen, den sie in der russischen Okkupation kultivierten, diese Faul- und Trunkenheit, diese Wilden aus den Wäldern im eisigen Norden, den »Indianern« viel ähnlicher als Europäern. Und Mongolen seien sie auch, die Finnen. Im Jänner 1908 wird vor Gericht die Frage geklärt, ob John Svan, Sozialist und Finne in einem, und weitere fünfzehn finnische Minenarbeiter eingebürgert werden. Die Antwort des Staatsanwaltes John Sweet ist ein klares Nein, schließlich seien Finnen Mongolen, eindeutig Asiaten, ihre sozialistische Ideologie stünde den kollektivistischen ostasiatischen Philosophien so nahe. Der Finne hat eine asiatische Geisteshaltung und diese sei bekanntlich inkompatibel mit der US-amerikanischen. Richter William A. Cant meint daraufhin, Finnen seien anfangs Mongolen gewesen, aber Klima, Auswanderung und der Einfluss germanischer Stämme hätten sie zu weißen Europäern gemacht.

1916 kommt es zu einem weiteren, historisch bedeutenden, Streik. Joe Greeni, ein tschechischer Minenarbeiter, protestiert gegen das Lohnsystem und inspiriert, nur wenig zeitverzögert, 8.000 Arbeiter zum Streik, die meisten Einwanderer. Aus den Spannungen wird Gewalt, der kroatische Minenarbeiter John Alar wird von den Wachen der Oliver Iron Mining Company erschossen. Im Zuge der Unruhen, die von Juni bis September andauern, gibt es zwei weitere Tote. Im Februar 1917 sagt der verantwortliche Polizeichef David Foley vor dem Repräsentantenhaus aus, das Opfer sei ein gefährlicher Mann mit krimineller Vergangenheit gewesen, außerdem wären Einwanderer aus Südeuropa für den Ausbruch der Unruhen verantwortlich. Zwar seien Einwanderer generell unzivilisiert und bedrohlich, man müsse jedoch differenzieren. Nachkommen der frühen Einwanderer, die mittlerweile im Land geboren werden, sind verheiratete Familienväter von hoher Moral. Die neuen Einwanderer hingegen, geben ihr gesamtes Geld für Alkohol aus und kehren den Vereinigten Staaten den Rücken zu, sowie es ökonomisch unbequem wird. Mit einem US-amerikanischen Monatslohn kommen sie in ihrer Heimat ein Jahr aus. Und noch etwas lässt der Polizeichef hören. Er nennt Menschen aus Südeuropa »black fellows«.

No, race does not exist.
And yet it does

Damit verleiht er einer Praxis Ausdruck, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert im US-amerikanischen Kontext keine seltene ist. Weiß und Schwarz als Ausdruck von Rasse sind bewusst kein binäres System mit zwei fixierten Polen, vielmehr ein Kontinuum, das flexibel nach Bedarf gepolt wird und a posteriori eine unbeirrbare Ordnung suggeriert. Dabei bedient man sich biologistischer und kulturalistischer Elemente, sowie Ad-hoc-Interpretationen von Hautton, einer Determinante, die nicht immer per se determiniert, oft unabhängig davon abstrahiert und stellvertretend für die gefühlte Ablehnung des gefühlt Anderen steht.
»Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis
von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.«
Auszug aus der Jenaer Erklärung
So werden südeuropäische Minenarbeiter zu black fellows, finnische zu Mongolen. Als um 1900 Einwanderer:innen aus Sizilien in Ellis Island oder New Orleans ankommen, gelten sie in einem von differenzieren wollenden Antiitalianismus geprägten Klima laut Einreiseformular als »Southern Italian«, nicht als »White«. Ähnlich gelten irische Immigrant:innen im rassistisch-hierarchischen Alltag als verhältnismäßig weniger weiß, stehen Nachkommen angelsächsischer Protestant:innen an der Spitze. Die Basis für diese Praxen bilden ein diffuses Unbehagen – ein Amalgam von schwarzem und rotem Haar, sonnengebräunter Haut, kaltem Norden, Südeuropaklischees, Armut, Katholizismus, Sozialismus – und eine reflexhafte Identitätsbildung, die Sehnsucht, sich abzuheben, sich kontrastiv zu positionieren.

Nicht-weiß oder schwarz wird zu einem ständig neu kontextualisierten Derogativ für anders Denkende, anders Gedachte, anders Essende, anders Pigmentierte, für unbequem, für unprotestantisch, für unamerikanisch … für machtlos, für Nicht-Ich. Rasse ist ein inkonsequent durchdachtes Konstrukt voller Unzulänglichkeiten und Paradoxa, chamäleonesk, sprunghaft, die Spielregeln und Angriffsflächen permanent ändernd und anpassend. Gerade in der Rückgratlosigkeit seinen eigenen Theorien gegenüber, der Beliebigkeit der Argumentation, Flexibilität der Handhabbarkeit und Willkürlichkeit der Teilbarkeiten von Wir und Ihr scheint eine große Wirkungsmacht des Rassismus zu liegen. Rassismus braucht keine realen Rassen. Er braucht ihre Fiktion.

»Race does not exist. But it does kill people. (…)
No, race does not exist. And yet it does. Not in the way that
people think; but it remains the most tangible,
real and brutal of realities.«
Colette Guillaumin

 

Essay, Fazit 186 (Oktober 2022), Foto: Paperwalker

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