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Sprachrohr der Armut

| 12. Oktober 2022 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 186, Fazitgespräch

Foto: Erwin Scheriau

Caritas-Direktorin Nora Tödtling-Musenbichler im Gespräch über die Stille der Armut, Solidarität in Zeiten der Krisen und notwendige Reformen der katholischen Kirche.

Das Gespräch führten Peter K. Wagner und Johannes Tandl.
Fotos von Erwin Scheriau.

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Über eine kleine und durchaus versteckte Verbindungsgasse für Fußgänger und Radfahrer erreicht man vom Hasnerplatz aus das Paulinum, in dessen Altbau die neue Caritas-Direktorin vor wenigen Wochen eingezogen ist. Ihr Vorgänger Herbert Beiglböck hatte ein Büro im Neubau nebenan. Und ebenjener ehemalige Direktor ist es, den wir just nach unserem Besuch bei Nora Tödtling-Musenbichler in der kleinen Gasse auf dem Weg zurück zu unseren Gefährten treffen.

Er sitzt am Rad, wir fragen nach dem Wohlbefinden. »Danke«, sagt er, guter Laune. Und als wir ihm erzählen, wo wir gerade waren, meint er nur: »Schreibt’s was Schönes über die Nora.«

Knappe 40 Minuten mit der neuen Caritas-Direktorin liegen da an diesem Dienstagvormittag gerade hinter uns. Obwohl laut ihrer Pressesprecherin die nächsten Interviewtermine eigentlich erst im November möglich sind, nahm sie sich dennoch Zeit für uns. Es gibt eben viel zu tun, wenn man in ein solch bedeutsames Amt eintritt.

***

Frau Tödtling-Musenbichler, Sie sind erst seit 1. Juli in der Position als Caritas-Direktorin und stehen einer Dreierspitze als Sprecherin vor. Warum diese neue Aufteilung?
Wir haben seit letztem September ein Direktorium in dieser Form, weil wir größer geworden sind und mit 2.500 Mitarbeitern neue Strukturen in der Führung brauchen. Mein Vorgänger Herbert Beiglböck hat die Notwendigkeit gesehen, die Leitung einer Organisation dieser Größe auf mehreren Schultern zu verteilen. Ich habe mehr Verantwortung nach außen.

Sie waren sehr aktiv in der Medienarbeit. Fand da ein Paradigmenwechsel statt?
Ich glaube, dass auch Herbert Beiglböck sehr aktiv in den Medien war und wir nun aber den Wechsel genutzt haben, um die Caritas in der Öffentlichkeit gut zu positionieren. Mir war zusätzlich wichtig, dass die Menschen hier in der Steiermark wissen, mit wem sie es zu tun haben, weil ich jemand bin, der gerne hört und spürt, was bei den Menschen los ist, und sich Sorgen und Nöte anhört.

Wie sichtbar muss Armut sein?
Armut ist meist still und leise. Umso wichtiger sehe ich unseren Auftrag als Caritas, dass wir dort der Armut eine Stimme geben und anwaltschaftliches Handeln in den Fokus stellen für jene, die nicht hörbar sind. Ich glaube, Armut muss immer wieder lautstark gezeigt und zur Sprache gebracht werden, damit sich etwas ändern kann. Es ist für uns in einem Land wie Österreich leider noch immer nicht so, dass es keine Armut gibt. Auch, wenn das der große Wunsch wäre. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, etwas zu verändern. Nicht nur die Politik oder die Caritas, die Einrichtungen gründet. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft einen Platz haben.

Uns kommt vor, dass sich die Kommunikation der Caritas geändert hat. Es wird versucht, den Menschen nicht mehr ein schlechtes Gewissen einzureden. Oder täuscht der Eindruck, dass ihr einen partnerschaftlicheren Weg mit jenen gehen wollt, die auch etwas zu geben haben?
Ich sehe es als Partnerschaft, weil ich glaube, dass jeder seinen Teil beitragen kann. In einer Situation, in der alle von Teuerung betroffen sind bei uns im Land, möchten wir als Caritas nicht ständig die Moralkeule schwingen. Mein Credo ist: Gemeinsam können wir es schaffen. Dafür braucht es auch eine gerechte Verteilung und nicht immer die Aufforderung für Geldspenden, auch Zeit ist ein wertvolles Gut.

Foto: Erwin Scheriau

Wie wichtig ist Ehrenamt für die Caritas?
Die Caritas Steiermark hat auch in der neuen Strategie einen großen Schwerpunkt auf Freiwilligkeit. Weil wir sehen, dass viele Dienste mit ausschließlich hauptamtlichem Personal nicht mehr zu bewältigen sind. Aber Freiwillige können durch Zeit- und Gehörschenken viel in der Stimmung verändern. Gerade in der Region sind wir sehr stark vertreten.

Geht es der Caritas darum zu helfen, wenn geholfen werden muss, oder mehr um Hilfe zur Selbsthilfe?
Im Vordergrund steht schon, die Not zu sehen und zu handeln, wie zum Beispiel zuletzt für Geflüchtete aus der Ukraine. Aber es geht darüber hinaus darum, dass nicht nur Bittsteller zu uns kommen, sondern wir wollen Menschen auch befähigen, selbst wieder an der Gesellschaft teilhaben zu können. Der dritte Bereich unserer Arbeit ist, dass es nicht reicht, nur zu helfen und befähigen, sondern dass wir auch gesellschaftliche Veränderung möglich machen wollen.

Die Kirche war sehr ÖVP-lastig, da findet derzeit ein Umbruch statt. Wie weit geht man gesellschaftspolitisch, ohne sich mit dem Bischofsplatz akkordieren zu müssen?
Ich verstehe die Caritas so, dass sie für alle Menschen da ist. Wir sind sozialpolitisch und gesellschaftspolitisch aktiv. Aber wir sind nicht politisch aktiv. Mein Ansinnen als Caritas-Direktorin ist, mit allen Parteien im Gespräch zu sein und mich zu trauen, anzuecken. Wir sehen uns schon auch als Sprachrohr der Armut.

Ihr Vorgänger Beiglböck wirkte ruhiger nach außen als dessen Vorgänger Franz Küberl. Wollen Sie lauter sein als Beiglböck?
Ich habe gute Vorgänger, die beide ihre Stärken hatten im Auftreten. Ich möchte die Caritas gut voranbringen und bin jemand, der auch in den Vinziwerken nicht leise war. Das heißt nicht, dass ich mich zu allem äußern muss, sondern mir sind Gespräche wichtig, um Verständnis zu bekommen. Oft wissen Politiker nicht, warum Armut entsteht und wo man ansetzen könnte.

Die Caritas übernimmt essentielle gesellschaftliche Aufgaben – auch im Auftrag des Staates. Dann gibt es aber auch Bereiche, wo Geld selbst aufgetrieben werden muss. Wie gut geht es der Caritas finanziell?
Gerade heuer, wo die Teuerung zuschlägt, merken wir das auch intern. Wir hatten Sorgen, wie sich das Spendenverhalten von der Coronapandemie ausgehend hin zu der Teuerung jetzt entwickeln wird. Wir sind dankbar, dass es weitergeht und es eine große Solidarität gibt und die Spendenbereitschaft nicht abnimmt. Auch die spendenfinanzierten Einrichtungen sind stabil. Natürlich hatten wir während Corona Herausforderungen und konnten auch gewisse Hilfen in der Coronazeit nicht erhalten. Aus einem einfachen Grund: Caritas wächst in der Krise, aber die Einnahmen wachsen nicht mit. Spenden sind wichtig für uns, nicht zuletzt die Haussammlung, bei der im vergangenen Jahr 625.000 Euro zusammengekommen sind. Bei Spenden ist es uns ein besonderes Anliegen, dass sie direkt bei den Menschen ankommen. Ich denke nur an das Marienstüberl in Graz, wo wir ganz viele Lebensmittel ausgeben und auch kochen. Die Lebensmittelausgaben haben sich insgesamt heuer verdoppelt übrigens – von einer auf zwei Tonnen täglich. Das zeigt unter anderem, was bei uns im Land passiert.

Ist die Not und Armut mittlerweile in der gesellschaftlichen Mitte angekommen?
Ja, es gibt Verschiebungen. Das ist seit heuer noch einmal stärker zu erkennen. Wir hatten heuer 30 Prozent mehr Erstkontakte, es kommt eine neue Gesellschaftsschicht dazu. Arbeitende Menschen, die normal gelebt haben und jetzt sagen: Es war in der Coronazeit schon eng, aber mit der Teuerung geht es sich jetzt nicht mehr aus. Und das wird auch eine Zeitlang noch andauern.

Wo ist die Grenze der Notwendigkeit in der Hilfe in Bezug auf Einrichtungen? Oft werden Projekte gefördert auf eine gewisse Zeit vom Bund und dann läuft es danach aber ohne Fortführung aus. Wie geht man mit diesem Thema um?
Das ist ein großes Thema von uns in der Steuerung, zu erkennen, was dringend notwendig ist. Wenn es dringend ist, können wir nach zwei Jahren zu den Menschen, die zu uns kommen, nicht sagen, dass wir nicht mehr da sind. Da werden wir mit Unternehmenskooperationen oder Spenden versuchen, Projekte weiterzuführen. Wir gründen Projekte nicht zum Selbstzweck. In der Wohnungslosenhilfe gibt es Einrichtungen, die nicht durch Subventionen finanziert sind, aber dennoch nie aufhören werden, weil die Notwendigkeit da ist und sie über Spenden ermöglicht werden.

Sie kommen vom Vinziwerk und dem bekannten Pfarrer Wolfgang Pucher. Wir unterstellen Ihnen, dass Sie dort deshalb 17 Jahre lang tätig waren, weil Sie ein seh großes und weiches Herz haben?
Ja. [lacht]

Nun sind Sie in einer doch relativ harten Managementaufgabe bei der Caritas gelandet mit einem Budget von 100 Millionen Euro im Jahr. Da müssen Sie doch auch nein sagen können, oder?
Ja, aber das musste ich bei der Leitung der Vinziwerke in Österreich auch. Ich komme von der Basisarbeit, war sechs Jahre in einer Einrichtung für Schwerstalkoholiker im Vinzidorf tätig. Nicht alles, was man gerne machen würde, geht auch. Es ist immer auch ein Hadern und Überlegen miteinander, wo wir besonders hinschauen müssen.

Gibt es freie Finanzspritzen für neue Projekte?
Wir brauchen immer Ressourcen, um uns auch frei bewegen zu können. In unserer neuen Strategie schauen wir auch genau, was besonders notwendig ist. Neue Schwerpunkte sind noch einmal mehr Regionalisierung und mehr Bedarfsorientierung sowie Befähigung – etwa im Bereich der Digitalisierung. Natürlich braucht es da finanzielle Mittel, um Neues entstehen zu lassen. Gerade, weil von heute auf morgen immer Herausforderungen auf uns zukommen können. So wie zuletzt der Krieg in der Ukraine.

Sehen Sie das Verhältnis mit der Politik eigentlich partnerschaftlich oder sehen Sie sich als Widersacher?
Wir sind in Kontakt mit allen politischen Parteien und ich glaube, dass es sich gut entwickelt hat und es sich um eine Partnerschaft handelt, die auch immer wieder ihre Grenzen hat, die gut und wichtig sind. Es geht nicht darum, immer einer Meinung zu sein, sondern für die gemeinsame Sache zu arbeiten. Da gibt es Reibung und Spannung, aber wir schätzen uns auf Augenhöhe. Die Politik bringt uns ein großes Wohlwollen entgegen, weil ein verlässlicher Partner in der Umsetzung sind.

Foto: Erwin Scheriau

Die katholische Kirche hat in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Einflussverlust erlebt. Und das in fast jedem Bereich – außer bei der Caritas. Warum?
Ich glaube, dass die Caritas ein Teil der Kirche ist, der sehr positiv wahrgenommen wird, weil es um konkrete Hilfestellungen geht. Gerade weil wir auch in der Coronazeit zuletzt gezeigt haben, dass wir präsent waren und alles geöffnet hatte. Viele haben vermisst, dass Kirche in dieser Zeit nicht so lebendig war. Ich glaube auch, dass wir als Caritas sehr nah an den Menschen dran sind, und das führt zu einem positiven Bild. Die Frage, die immer wieder aufkommt, ist, ob die Kirche nah genug an den Menschen dran ist, um auch für Junge attraktiv zu sein und Bedürfnisse zu stillen. Nichtsdestotrotz ist es für mich so, dass wir Teil der katholischen Kirchen sind mit einem klaren Auftrag. Überall, wo Caritas draufsteht, ist Kirche drin – und das soll auch spürbar sein. Umgekehrt wünsche ich mir, dass auch überall, wo Kirche draufsteht, Caritas drin sein soll.

Aber das ist eben die große Frage, ob das so ist …
Es wäre jedenfalls mein Wunsch. Die Kirche hat sich in den letzten Jahren viel mit sich selbst beschäftigt. Ich glaube, die Kirche braucht mehr Nähe zu den Menschen.

Ist die Caritas der evangelikale Flankenschutz der Kirche im Bereich der Armutsbekämpfung?
Nein, ich erlebe aktuell, dass die Pfarren sich auch sehr engagieren. Wir haben nicht den Auftrag, dass alles, was als »Diakonie« bezeichnet wird, nur Aufgabe der Caritas ist. Uns geht es um ein gutes Miteinander, das wir auch mit den Regionalkoordinatoren in den Regionen schaffen.

Ist das ein Auftrag des Bischofs?
Es ist jedenfalls der gemeinsame Wunsch zusammenzuarbeiten. Wir brauchen die Pfarren vor Ort, weil es viel Potenzial an Freiwilligen gibt, die merken, wenn es jemandem in der Region nicht gut geht. Ich würde mir wünschen, dass die Vielfalt der Pfarren das Bild der Kirche wieder positiv prägt.

Sie sind mit einem ehemaligen Priester verheiratet. Ist das für die Kirche ein Problem?
Ich sehe es als Beispiel dafür, wie positiv sich die Kirche entwickelt, dass erstmals eine Frau an der Spitze der Caritas ist, weil es sich um ein hohes Amt in der Kirche handelt, das vom Bischof gewünscht war. Immerhin bin ich von ihm bestellt. Daher weiß ich auch, dass es kein Problem ist, dass mein Mann Priester war, sondern ich als Person und mein Können wertgeschätzt werden. Auch möchte ich betonen, dass es etwas aussagt, dass so etwas wie meine Bestellung bei uns überhaupt möglich ist. Ich weiß nicht, ob dieser Weg der Diözese Graz-Seckau überall denkbar wäre.

Sie fühlen sich also nicht bewertet in irgendeiner Form?
Nein, mein Mann ist als Leiter der Krankenseelsorge weiterhin mit seinem Herzensanliegen in der Kirche beschäftigt und wir wurden von Anfang gut gestützt und begleitet.

Gibt es einen Hang zum Liberalismus in der Kirche oder wird sie im Großen und Ganzen so bleiben, wie sie ist?
Ich hoffe, dass die Kirche nicht so bleibt, wie sie ist, weil wir Veränderung brauchen. Das ist auch vielen bewusst – zum Beispiel unserem Bischof. Der Papst hat weltweit zum synodalen Weg aufgerufen. Auch in Österreich wurde der Weg gegangen – die Gesellschaft wurde in ihrer Breite befragt, was sich ändern soll. Wir müssen auf diese Wünsche eingehen. Wenn sich jetzt nichts bewegt, sind diejenigen, die noch bei uns sind, auch bald weg. Wir müssen ernst nehmen, wie wir Gesellschaft heute leben und dürfen nicht manches ausblenden – ob Geschiedene, die LGTBQ+-Community oder andere Themen, die schon lange da sind. Die Kirche wird sich damit beschäftigen müssen und ich spüre, dass sich viel bewegt. Auch wenn es nicht von heute auf morgen passieren wird.

Frau Tödtling-Musenbichler, vielen Dank für das Gespräch!

*

Nora Tödtling-Musenbichler wurde am 5. Jänner 1983 in Knittelfeld geboren. Schon als Gymnasiastin in Knittelfeld initiierte sie ein Lernprojekt für benachteiligte Schüler, für das sie mit der Humanitas-Medaille geehrt wurde. Sie studierte einige Semester Theologie, absolvierte den Lehrgang für Pastoralpsychologie und war 17 Jahre lang in den Vinziwerken in unterschiedlichen Positionen tätig. Zuletzt als Koordinatorin der Vinziwerke Österreich. Seit Juli ist sie Direktorin der Diözese Graz-Seckau. Sie ist verheiratet.

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