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Jagdszenen im Bayerischen

| 10. Oktober 2023 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 196, Gastkommentar

Foto: Sandro Halank

Michael Bärnthaler über ein grausliches Flugblatt aus den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts und die Diskussionen, die es im Vorfeld des bayerischen Landtagswahlkampf ausgelöst hat.

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Nach seiner Rede in Erding war Hubert Aiwanger, seines Zeichens stellvertretender bayerischer Ministerpräsident und bayerischer Wirtschaftsminister, markiert: Er hatte davon gesprochen, dass »die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen« müsse. Durch diese Worte, die landauf, landab in allen Medien zitiert, kommentiert und verurteilt wurden, hatte Aiwanger sich selbst punziert: als problematisch, populistisch, afdistisch. Und die Leit- und Weiterleitmedien, der ganze synchronisiert summende Meinungsapparat markierte ihn als ein Problem, einen Populisten, ein Zielobjekt. Das verbale Kainsmal auf Aiwangers Stirn (»die schweigende Mehrheit«!) führte ihn zum Verhör bei Markus Lanz, wo ihm eine weitere gegen ihn verwendbare Formulierung entlockt werden konnte: die »formale Demokratie«. Deutschland, so Aiwanger im verbalen Nahkampf mit Lanz, sei zwar selbstverständlich »formal eine Demokratie«, um die demokratische Substanz des Gemeinwesens sei es jedoch nicht zum Besten bestellt. Wie konnte dieser Bauer, dieser Populist, dieser Aiwanger sich anmaßen, in der demokratischen Praxis der Bundesrepublik anno 2023 eine weniger als vollkommene Verwirklichung demokratischer Ideale zu erblicken?

Selektive Überempfindlichkeit, die immer bizarrere Blüten treibt, ist der Modus, in dem das Establishment seine Kritiker zu sezieren pflegt: Ein falsches Wort hier, eine verdächtige Bekanntschaft dort, und schon muss das Urteil lauten: 1/4- oder vielleicht gar 1/3-Nazi. Wenn sie aus dem falschen Mund kommt, wird Kritik an demokratischen Defiziten, wird typische Oppositionsrhetorik, wie sie jeder aus etlichen Wahlkämpfen kennt, von einem integralen Bestandteil der Demokratie umgedeutet in ihr Gegenteil: antidemokratische Agitation. Denn Kritik von links ist Fortschritt.Kritik von rechts ist Hass. Natürlich können Oppositionspolitiker über die Stränge schlagen und müssen ihrerseits Kritik aushalten. Doch der Kampf der einen Seite des politischen Spektrums gegen die andere, der »Kampf gegen Rechts« hat längst jedes Maß verloren. Es ist diese Maßlosigkeit, die in Phantasien einer Wiederholung der 1930er-Jahre gipfelt, die heute vielleicht die größte Gefahr für die Demokratie in Deutschland darstellt. Genauer: Es ist die positive Rückkopplung zwischen dieser linken Maßlosigkeit und dem rechten Populismus, der ihr antwortet. Und natürlich können die beiden Seiten sich nicht darauf einigen, wer denn »angefangen hat«. Indem ich für die eine Seite Partei ergreife, gebe ich zu erkennen, dass ich bereit bin, die Hauptschuld an der allgemein beklagten Polarisierung, die tatsächlich irgendwann demokratiegefährdende Ausmaße annehmen könnte, der anderen, also der linken Seite zuzuweisen.

(»Aber was ist mit Höcke?« — »Scheiß auf Höcke.«)

Die Obsession mit den Neunzehndreißigerjahren hat das Potential zur Self-Fullfilling-Prophecy. Es wird nicht dazu kommen, nein. Aber dieses Potential bewirkt, dass die Realität nicht präzise genug erkannt wird und dass die gefährliche Einstellung sich ausbreitet, im Kampf gegen die AfD sei praktisch alles erlaubt. Was wiederum … Positive Rückkopplung, Radikalisierung auf beiden Seiten, Polarisierung — alles bekannt.

Aiwanger war also markiert, nach Erding, nach Lanz. Er war als Zielobjekt etabliert, und Linke kühlten ihr Mütchen an ihm, etwa im Rahmen der Minikampagne auf Twitter: »Aiwanger lässt andere ihm Regen stehen«. Denn ist ein Mensch einmal als Zielscheibe der linken Erregungsmaschine ausgemacht (O weh!), werden Worte, Bilder, Tatsachen aus jedem Zusammenhang herausgerissen und neu zusammengefügt zu einem Simulacrum, dessen Abscheulichkeit die Behandlung als Zielscheibe rückwirkend legitimiert. So ist das halt, und es ist ja auch irgendwie für die gute Sache, nicht?

Die Süddeutsche Zeitung fand dann endlich den guten Stoff: Ein alter Lehrer hatte ein altes Flugblatt anzubieten, das angeblich der 17-jährige Hubert Aiwanger am Gymnasium verteilt hatte. Dieses Flugblatt, das auf abstoßende Weise Bezug nimmt auf die nationalsozialistischen Konzentrationslager und den von den Nazis organisierten Massenmord, soll offensichtlich provozieren, der weitere Hintergrund ist ziemlich unklar. Natürlich löste diese Entdeckung eine Lawine der Berichterstattung aus, in der die Grenze zwischen Boulevard und »Qualitätszeitung« so offen war, wie Grenzen heutzutage sein sollen. Nachdem Hubert Aiwangers Bruder Helmut sich als Autor des Flugblatts zu erkennen gegeben hatte und da Hubert Aiwanger selbst erklärte, Flugblätter lediglich eingesammelt zu haben, um ihre Verbreitung zu verhindern, weitete die Kampagne sich aus. Sie wurde zu einer wütenden Sammelanstrengung, möglichst viele Hinweise auf eine »braune Vergangenheit« Aiwangers am Gymnasium zusammenzutragen. Doch ein eindeutiges Bild wollte sich einfach nicht ergeben: Die einen ehemaligen Mitschüler sagten so, die anderen so.

Wer nun den ersten Widerwillen, uralte Schmutzwäsche zu waschen, überwunden hatte, den führte seine Selbstüberwindung nicht zu entscheidender Erkenntnis in der Sache, sondern bloß zurück zum verratenen Prinzip: Wühle nicht im Schmutz. Was Minderjährige vor Jahrzehnten im geschützten Raum Schule, wie Aiwanger selbst es formulierte, möglicherweise taten oder auch nicht, das kann wirklich nur in extremen Ausnahmefällen ein legitimer Gegenstand öffentlichen Interesses sein. Oder wollen wir von unseren Top-Journalisten regelmäßig Sätze lesen wie diesen: »Nebenstrang in der #AiwangerAffäre: Als 15-Jähriger soll er 2 Lehrerinnen mit Säure bespritzt haben«? Das war das Endstadium der Kampagne, die uns zuvor auch dieses schöne Bekenntnis zum Kampagnenjournalismus beschert hatte. Ob der kleine Hubsi in der Grundschule immer schön brav gewesen ist, erfuhren wir nicht mehr. Natürlich: Für den linken Journalisten gibt es hier einen großen Zusammenhang, eine im Lichte von Erding offensichtliche Relevanz all dessen, was der Jugendliche Hubert Aiwanger möglicherweise an Hitler-Witzen und pubertären Provokationen verbrochen hat. Die Relevanz, die das unwürdige Schauspiel rechtfertigen soll, ergibt sich, so der linke Journalist, eben daraus, dass Aiwanger ja — dies sei offensichtlich nach Erding — »im Grunde immer noch so einer ist«, also ein, sagen wir mal, 3/4-Nazi. Das ist natürlich Blödsinn, das ist die falsche Prämisse, die manche wirklich glauben, andere bloß zynisch verwenden.

Aber was, wenn da mehr war? Was, wenn der junge Hubert tatsächlich ein eingefleischter Nazi war? Ich halte das für ziemlich unwahrscheinlich, aber es ist natürlich möglich. Das würde die Sache komplizierter machen, unangenehmer, aber es würde an dem entscheidenden Punkt nichts ändern: Hubert Aiwanger ist heute, ist seit Jahrzehnten offensichtlich kein Nazi, sondern ein liberal-konservativer Politiker. Daran ändern selbstverständlich auch die Rede in Erding und sein allgemeines Auftreten als Oppositionspolitiker gegen die Ampel nichts. Es gab also keinen »begründeten Anfangsverdacht« und keinen Grund, in seiner Vergangenheit zu wühlen. Was Politiker vor Jahrzehnten als Minderjährige taten, geht Journalisten nichts an.

Hubert Aiwangers Umgang mit den Vorwürfen war leider auch sehr unbefriedigend. Unter anderem weil nie wirklich klar wurde, wofür genau er in seiner Erklärung eigentlich um Entschuldigung bat: Dafür, dass er »als Jugendlicher auch Fehler gemacht« hat? Welche? Oder dafür, dass er in der Gegenwart »durch [s]ein Verhalten in Bezug auf das in Rede stehende Pamphlet […] Gefühle verletzt« haben könnte? Vermutlich beides. Es bleibt unbefriedigend. Aber dass Aiwangers Reaktion so unbefriedigend ausfiel, ist verständlich: Er hatte einfach genug von dem Blödsinn, wollte sich damit nicht beschäftigen, lieferte nur »Dienst nach Vorschrift«. Wenn meine Einschätzung der Gesamtsituation nicht völlig daneben ist, dann kann man ihm das nachsehen. Vielleicht war es sogar taktisch geschickt. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder jedenfalls akzeptierte Aiwangers Entschuldigung, und die Affäre, die ein verantwortungsvollerer Journalismus gar nicht erst produziert hätte, ist damit wohl beendet. Der Journalismus aber geht weiter.

Anmerkung: Die Landtagswahl in Bayern brachte einen Sieg der CSU, die Freien Wähler, die Partei Hubert Aiwangers, wurde Zweiter. Hier zum ganzen Ergebnis.

Bärnthaler macht sich Gedanken, Fazit 196 (Oktober 2023), Foto: Sandro Halank

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