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Zivilkapitalismus. Wir können auch anders

| 20. November 2013 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 98

wolf_lotter_webEin Essay von Wolf Lotter. Der Kapitalismus ist am Ende. Die Zeichen stehen an jeder Wand. Nach langer Herrschaft wird nun kurzer Prozess gemacht. Es ist ein Prozess, bei dem »die Richter das Todesurteil bereits in der Tasche haben. Sie werden es fällen, ohne Rücksicht auf vorgebrachte Verteidigung; der einzige Erfolg, den eine siegreiche Verteidigung möglicherweise zeitigen kann, ist eine Änderung der Anklage«. Der große Ökonom Joseph A. Schumpeter hat das aufgeschrieben, im Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg begann, 1939. Die Jahre zuvor waren geprägt von einer Weltwirtschaftskrise, auf die auch heute, im nach wie vor laufenden Prozess gegen den Kapitalismus, immer wieder Bezug genommen wird. Damals wie heute hieß es, dass es habgierige Spekulanten und selbstsüchtige Kapitalisten gewesen wären, die die Welt an den Rand des Abgrunds geführt hätten. Die Anklagepunkte und die hinter ihnen steckende Haltung haben sich nicht geändert. Und das ist das Problem: Denn eine Änderung der Anklage würde den Prozess als das entlarven, was er ist: eine Farce.

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Wolf Lotter ist Journalist und Autor. Zuerst Buchändler studierte er später an der Universität Wien. 1992 bis 1999 schrieb er kurz für das Magazin »News« und danach für das Nachrichtenmagazin »Profil«. 1999 war er einer der Begründer des bundesdeutschen Wirtschaftsmagazins »Brand eins« in Hamburg, wo er seit 2000 die Leitartikel zu den Schwerpunktthemen verantwortet. 2013 erschien sein aktuelles Buch »Zivilkapitalismus« im Pantheonverlag. wolflotter.de

Das Ziel der Ankläger ist es, dem Kapitalismus die Ursache für alle menschlichen Fehler zuzurechnen. Gier, Neid, Raub, Betrug, Erpressung, Respektlosigkeit und Gewalt, sie alle scheinen in der Welt der Antikapitalisten einen einzigen Grund zu haben: den Angeklagten. Dass der dazu so hartnäckig schweigt, wird ihm zur Last gelegt. Linke, Rechte, Konservative, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen, Parteien und Politiker, sie alle sind sich einig in der Anklage. Allein das sollte aufgeklärten Menschen zu denken geben. Welchem Zweck dient die lautstarke Anklage des Kapitalismus? Wem nützt sie? Möglicherweise, ja sehr wahrscheinlich sogar, stellen sich einige der Anklagepunkte bei genauer Betrachtung als richtig heraus. Vielleicht sind sogar die meisten der Vorbehalte, die gegen den Kapitalismus geäußert werden, in ihrer Tendenz richtig.
Doch selbst dann kann man nicht übersehen, dass mit diesen Feststellungen noch nichts getan ist. Haben wir verstanden, was Kapitalismus ist – und was der Antikapitalismus will? Denn nur, wer beide Seiten kennt, kann zu einem dritten Weg aufbrechen, also das Klagen überwinden und die Sache selbst in die Hand nehmen.

Die Ankläger von heute eignen sich kaum dafür, diesen dritten Weg zu beschreiten. Man soll, so heißt es, die neue Welt nicht jenen überlassen, die schon die alte an die Wand gefahren haben. Für praktisch alle heute präsenten Parteien, Lobbies und Organisationen gilt diese Einsicht. Sie sind es, die den Mythos des Kapitalismus entwickelt haben. Sie bestimmen unsere Sicht auf die Dinge. Deshalb wird sich dieses Buch seinem Gegenstand über dessen Gegensatz nähern, also die Welt des Antikapitalismus beschreiben. Mythen sind gefährlich: »Der größte Feind der Wahrheit ist sehr häufig nicht die Lüge – wohl bedacht, erfunden und unehrlich –, sondern der Mythos – hartnäckig, überzeugend und unrealistisch.« Diese kluge Feststellung stammt von John F. Kennedy. Mythen dienen dem Machterhalt. Sie bestehen aus Geschichten, die wir glauben sollen, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Der Mythos schafft sich seine eigene Vergangenheit, er tut so, als ob er »Geschichte« hätte – das ist die Legendenbildung, die untrennbar zum Mythos gehört. Dieser Text wendet sich also zunächst gegen den Mythos und die Ohnmacht, die er nährt.

Der Kapitalismus ist ein Instrument, ein Werkzeug. Um für seine Feinde maximalen Nutzen zu stiften, muss er aber zu einem Mythos werden, zu einem lebendigen Wesen, einem Monster – oder eben dem, was man allgemein das »System« nennt, von dem alles Unglück ausgeht. Ein Mythos ist überirdisch. Er gerät seinen menschlichen Schöpfern außer Kontrolle. Das ist so beabsichtigt. Denn nun können mehr Regeln und mehr Mittel zur Kontrolle des selbstgeschaffenen Undings verlangt werden. Das hieß zu allen Zeiten: mehr Macht. Ein Instrument tut, was es kann. Ein Mythos hingegen schlüpft einem durch die Finger. Ein Werkzeug verlangt, dass wir seine Handhabung verstehen. Ein »System« aber kann man nicht begreifen, dazu ist es zu komplex, seine Eigenschaften zu unüberschaubar, zu unberechenbar. Ein »System« ist ein Zauberlehrling, ein Golem, der zu Leben erweckt wurde und jetzt nicht mehr zu stoppen ist.  Und wir fühlen uns dabei wie unsere Vorfahren. Der Kapitalismus entfesselt heute eine alttestamentarische Weltsicht: Wir fühlen uns bestenfalls als »Davids« im Kampf gegen »Goliaths«, doch eher schon als von »Heuschrecken« und anderen biblischen Plagen heimgesuchte Kapitalismusopfer. Die ganze Geisterbahn der Kulturgeschichte wird seit Beginn der Finanzkrise heraufbeschworen.

Diese schwülstige Beschwörung erfüllt einen pragmatischen Zweck: Der Kapitalismus ist an allem schuld. Wer das bezweifelt, kann bestenfalls dumm sein, gefährlich naiv – im Regelfall aber handelt es sich um eine Falschaussage und einen Meineid. Der Antikapitalismus ist zwar unvernünftig, aber er verfügt wie alle totalitären Theorien über eine innere Ordnung in Form einer Endlosschleife, bei der alle Ursachen des Bösen auf einen Nenner, einen Sündenbock gebracht werden.
Das »System« ist die große Projektionsfläche für Enttäuschungen aller Art, persönlich wie politisch. Ob das Essen nicht schmeckt, der Chef nicht grüßt, die Kinder plärren oder die Frau Migräne hat, der Mann seine Gattin betrügt oder der Prüfungsstoff zu schwer ist: Immer steckt das »System« dahinter, die Chiffre für die allgegenwärtige Ausrede, die Dinge nicht in den Griff zu kriegen. Alles bleibt im Konjunktiv, und man kann sein Leben im Schongang hinter sich bringen. Der gegenwärtige Prozess gegen den Kapitalismus ist nur einer in einer Reihe von Verfahren, die in der Geschichte der Menschheit gegen die Vernunft, die Aufklärung und den Individualismus geführt wurden. Zu allen Zeiten gab es genug Manipulanten, die sich zum Erhalt ihrer Macht zu Richtern aufgeschwungen haben. Und es gab reichlich nützliche Idioten, die ihr privates Unbehagen gerne zur öffentlichen Sache gemacht haben – nach dem Motto: »Wenn es mir nicht gut geht, dann ist auch der Rest der Welt nicht in Ordnung.« So denken Menschen, die nicht selbstkritisch genug sind, bei der Suche nach den Ursachen ihrer Leiden sich selbst miteinzubeziehen. Es ist wahr: Nichts verändert sich von selbst. Aber wenn man sich selbst nicht verändern will, dann erst recht nicht. Eine lapidare Antwort auf dieses Problem lautet: Menschen sind so.

Ist die Verteidigung des Kapitalismus also aussichtslos, wie Schumpeter meinte, weil es sinnlos wäre, gegen die ungeheure Menge an »unter- und überrationalen Impulsen« anzukämpfen, aus denen der Kapitalismus in den Augen seiner ökonomisch ungeschulten Beobachter besteht? Nein, das ist es nicht.

Erstens nicht, weil man dann ebenso gut die Begründung für Demokratie, Aufklärung und Emanzipation auf die Seite legen könnte. Geschichtslosigkeit ist zwar auch heute eine weitverbreitete Krankheit. Aber eine Zivilgesellschaft, die sich nicht erinnert, ist kaum ungefährlicher als ihre Vorläufersysteme, in denen sich das »Volk« von seinem »Führer« oder einer anderen Regierungsform zu allem Möglichen anstiften ließ, an das es sich danach nur ungern oder gar nicht erinnern konnte. Die Gedächtnislücken der Generation des Zweiten Weltkriegs liegen letztlich ja weniger in einem kompletten Erinnerungsverlust begründet als in der – genau betrachtet gar nicht so irrationalen – Einsicht, dass sie nur Befehlen gehorcht habe. Und da habe man »als Einzelner« nichts ausrichten können.

Dieser geistige Befehlsnotstand wird auch im allgemeinen Antikapitalismus gepredigt: Leute, die für Bürgerinitiativen sind, für regionale und lokale Teilnahme an politischen Entscheidungen, für mehr Volksabstimmungen und aktives Bürgertum, die außerhalb der eingefahrenen Strukturen und Bürokratien für mehr Mitbestimmung kämpfen – diese Leute verweigern sich einer Annäherung an die persönliche und zivile Ökonomie, indem sie den »Kapitalismus« und die »Wirtschaft« und das »Kapital« und sein »System« samt der allgemein verorteten »Gier« zu einem Feind erklären. Kann die Zivilgesellschaft, der große Schritt in der Emanzipation der Bürger von ihren Regierungen, gelingen, wenn ihre Akteure materiell hilflos, abhängig und handlungsunfähig bleiben? Oder gibt es möglicherweise irgendwo einen geheimen Masterplan, nach dem alle Teilnehmer der Zivilgesellschaft ihre sämtlichen ökonomischen Bedürfnisse und Fähigkeiten vergessen können, weil alles, was man gerne hätte – und das ist nicht gerade wenig – einem nach Art des Schlaraffenlandes in den Mund fliegt?

Diese gefährlichen Illusionen gefährden das Projekt der Zivilgesellschaft in ihrem Fundament. Ohne Zivilkapitalismus gibt es keine Zivilgesellschaft. Wer nicht lernt, mit der Ökonomie umzugehen, tut nur so, als ob er mehr Demokratie wagen möchte. Wollen wir nur spielen? Oder zeigen wir endlich mal, was wir können? Der Schauprozess gegen den Kapitalismus gleicht dem Ausschlag eines Pendels einer gewaltigen Uhr. Nach dem Zweiten Weltkrieg verzahnten sich im Uhrwerk die großen Räder des Sozialstaates mit dem Konsumkapitalismus. Das eine braucht das andere.
Beides aber führt dazu, dass die Person selbst zu einer sozialen, politischen und ökonomischen Marionette degradiert wird: Der Bürger ist nicht selbstständig und souverän, sondern der Verbraucher eines auf Hochtouren produzierenden Konsumkapitalismus. Also ein Subjekt, das nichts anderes zu tun hat, als die industriell gefertigten Fließbandprodukte stets aufs Neue zu verbrauchen und zu erwerben. Als Teil des Sozialstaates sind wir ebenfalls Konsumenten, die man nicht fragt, was sie wollen, die nicht selbst ihre Gesellschaft gestalten, sondern sich in einem immer höheren Maße bevormunden und organisieren lassen. Die Politikerklasse hat die Krisen, die sie ganz wesentlich zu verantworten hat, nicht nur unbeschadet überstanden, sondern schwingt sich nun auch noch zum Richter auf: Das Primat der Politik wird gefordert. Dazu gehört die Gleichung: Kapitalismus ist Egoismus, Politik ist Gemeinsinn. Nichts ist falscher als das. Der Kapitalismus stärkt vielmehr die Unabhängigkeit der Person, die gelernt hat, die Ökonomie als Werkzeug zur Emanzipation zu nutzen.

Die Politik ist zu allen Zeiten voller egomaner Verrückter gewesen, deren Geschäftsmodell darin besteht, anderen Leuten ihr Leben vorzuschreiben und sich deren Lebensergebnisse anzueignen. Nero, Caligula, Robespierre, Hitler, Stalin und Mao waren keine Kapitalisten. Sie waren Politiker, Machthaber. Haben sie möglicherweise den Gemeinsinn erfunden? Das politische Pendel schlägt also nicht in Richtung Gemeinsinn, sondern in Richtung Gemeinheit aus, und man kann es fast überall in der Gesellschaft erkennen. Diskurse sind nicht gewünscht. Das Entstehen eines gehaltvollen Streites zum Kapitalismus, seiner Zukunft, seiner Funktion ist das wichtigste Ziel dieses Buches, und diese Absicht wird an vielen Stellen hervortreten. Denn von platten Ablehnungen und Vorurteilen abgesehen gibt es keinen wirklichen Streit um den Kapitalismus. Damit wird er zu etwas gemacht, was er nicht ist: zum Schicksal. Das steckt auch hinter der resignativen Feststellung, dass 1989, im Jahr der Wende, der Kapitalismus seine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus nicht gewonnen habe, sondern eben nur übrig geblieben sei. Und nun, liebe Intellektuelle, verehrte Geisteseliten, Bürger einer vermeintlich selbstbewussten Zivilgesellschaft, was nun? Liegt er jetzt rum, der Kapitalismus?

Und was macht ihr eigentlich so, damit die Zukunft der Zivilgesellschaft nicht sich selbst überlassen ist? Wollt ihr nicht aus eurem Unbehagen, das die Folge eurer beharrlichen Verweigerung zur praktischen Ökonomie ist, wenigstens eine Unruhe machen, die zum Nachdenken führen könnte? Wenn sich die Zivilisation entwickeln will, muss sie sich zuerst einmal erinnern. Das ist in Zeiten der Veränderung, in denen wir stehen, vielleicht die wichtigste Übung. Das hat auch den Vorteil, dass wir nicht spekulieren müssen – nur verstehen. Das ist nicht einfach.

Scheinbar leichter ist es, die historischen Erfolge des Ka-pitalismus aufzuzählen. Nüchtern betrachtet profitiert die große Mehrheit der Menschheit heute von diesem Werkzeug. Auch wenn man das im reichen Westen nur gelegentlich und vermittelt bemerkt: Der Kapitalismus sorgt heute in der Globalisierung, die zu einem seiner Synonyme geworden ist, für die größte Gerechtigkeitskampagne in der Menschheitsgeschichte. Und die großen Krisen des Kapitalismus? Die Weltwirtschaftskrise von 1929 etwa, das Ereignis also, in dessen hartem Echo Schumpeter seine Gerichtsprotokolle notierte? Sie waren, das schreibt der ehemalige Links-Sponti und spätere Bundesaußenminister Joschka Fischer, nicht etwa die Folge eines zügellosen Kapitalismus, sondern dessen Gegenteil, einer engstirnigen staatlichen »Abschottung«, die zu einer »globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, zum Aufstieg der europäischen Totalitarismen und zu einem erneuten Weltkrieg« führten. Die Globalisierung selbst ist bei Fischer der Prozess, der die »jahrhundertealte globale Vorherrschaft des Westens in Frage stellt«.

Die verwöhnten Bürger der westlichen Wohlstandsstaaten reden gerne über Chancengleichheit für alle – aber wenn sie wirklich eintritt, hebt das Gezeter – die Globalisierungs- und Kapitalismuskritik – an. Das trifft besonders die Eliten hart, die sich im Wohlstand gemütlich eingerichtet haben, und es sind natürlich auch die geistigen und intellektuellen Eliten, die aus ihrer ökonomischen Unbildung immer wieder eine Tugend zu machen versuchen. Wer auf einer Party den rechenschwachen Antikapitalisten gibt, hat die Sympathien auf seiner Seite. Dabei vergessen viele, dass ein kritischer Blick ohne Sachverstand nichts weiter ist als eine Behauptung, eine Überheblichkeit. Ohne Ahnung von Ökonomie ist der kritische Blick vieler westlicher Intellektueller nichts weiter als eine Attitüde. Aber haben sie nicht trotzdem recht, liegen sie nicht sozusagen instinktiv mit ihrer Ablehnung des Kapitalismus richtig? Nehmen wir mal die Finanzkrise: Waren es nicht die Banken, die erst spekulierten, um dann dem Staat und Steuerzahler auf der Tasche zu liegen? Waren es nicht diese Erzkapitalisten, die den Konkurs des Systems am deutlichsten machten? Das gilt mittlerweile als wahr. Dabei wird aber übersehen, dass die Finanzkrise vor allem das Produkt einer über Jahrzehnte währenden engen Verflechtung von Staaten, Politik und Finanzindustrie ist – also keineswegs das Ergebnis einer kapitalistischen Überhitzung. Die leitenden Angestellten in Banken haben ihre Manöver stets mit der Politik verzahnt und geplant. Es ist das Geld anderer Leute, mit dem sie spielen – die Banker wie die Politiker. Das unternehmerische Risiko ist gleich null. Vor einigen Jahren nannten sich die Finanzmanager noch stolz und standesbewusst Bankbeamte. Und wer einmal erlebt hat, wie ausgezeichnet sich Banker und Verwaltungsbürokraten verstehen, dem ist die Krise kein Rätsel mehr.

Die Krise ist nicht allein das Produkt gieriger Spekulanten, sondern wenigstens genauso das Ergebnis der Arbeit unzähliger Bürokraten in Behörden und Konzernen, von Managern aller Art also. Es liegt in der Tat ein Systemversagen vor – nur hat dieses System nichts mit dem Kapitalismus zu tun, sondern mit dem alten Machtfilz aus Bürokratie, Berufsbeamtentum und Politik, der die Krise verursacht hat. Ist es also wirklich eine so großartige Idee, das »Primat der Politik« zu fordern – was ja auch einmal die Frage aufwerfen müsste, wer denn eigentlich all die letzten Jahrzehnte regiert und organisiert hat. Waren das alles hilflose Idioten, denen nicht aufgefallen ist, dass die »Macht« längst abgewandert ist? Oder war es, anders als diese Verschwörungstheorie uns weismachen will, doch eher so, dass sich alle Seiten prachtvoll verstanden: Politiker forderten, Banken lieferten, und Bürger nahmen, was sie kriegen konnten. In dieser Welt leben wir, ob es uns gefällt oder nicht.

Eine geänderte Anklage im Prozess gegen den Kapitalismus müsste aber auch neue Zeugen in den Stand rufen, auch jene, die sich als Zeugen der Verteidigung ausgeben, es aber nicht sind. In der Zivilgesellschaft brauchen wir Unternehmer, Menschen, die auf eigene Verantwortung handeln. Menschen mit Zivilcourage. Sie lösen den Untertanen des Industriekapitalismus ab, den Bürokraten und Manager, der nie von etwas wusste, der nichts dafür kann, nur Befehle ausführt und auch sonst nichts mit diesem Kapitalismus zu tun hat. Wie wenig, werden wir noch sehen. Im Prozess um den Kapitalismus würden sich diese vermeintlichen Zeugen der Verteidigung bald als meineidige Wendehälse entpuppen, so wie Verbandspolitiker, Lobbyisten und andere Funktionäre, die davon leben, Menschen zu beherrschen und zu verwalten – und deren Geschäftsmodell sicher nicht darin liegt, diese Vormundschaft zu beenden. Objektiv betrachtet hat der Kapitalismus eine Stufe erreicht, in der nun dieser Schritt der Emanzipation erledigt werden kann. Wir sind wohlhabend und frei genug, um uns das letzte, fehlende Glied der Aufklärung anzueignen: das Wissen um Ökonomie. Wer von Wirtschaft nichts versteht, bleibt immer unmündig – und ganz gleich, ob er als Intellektueller oder Minijobber durchs Leben geht, er bleibt abhängig von anderen, und er wird frustriert die Anklageschriften derer unterstützen müssen, die für ihren Machterhalt von einem »Primat der Politik« reden. Zivilkapitalismus ist der Kapitalismus der Person. Sie steht an erster Stelle. Der Mensch ist das Primat, das zählt.

Aber zurück zu den Notwendigkeiten: Die Änderung der Anklage ist die Änderung des Standpunkts, des Blickwinkels. Eine Reihe von Politikern weiß, dass ihr Beruf nur Zukunft hat, wenn die Bürger anfangen, den Staat nicht mehr als ständig wachsende Versorgungsanstalt zu begreifen. Es gibt also durchaus Verbündete in der Politik, mehr als man glaubt. So wie es auch in Konzernen und bürokratischen industriekapitalistischen Organisationen eine wachsende Anzahl an Menschen gibt, die das alte Herrschafts- und Wirtschaftssystem ruhig, aber konsequent von innen heraus verändern. Es sind Partisanen in eigener Sache, denen es nicht mehr genügt, dass sie eine schöne Karriere bis zur Rente machen können.

Für den Zivilkapitalismus und die Zivilgesellschaft braucht man einen Treibstoff. Es ist der gleiche, der auch den alten, unsinnigen Anklagen im Prozess gegen den Kapitalismus widersprechen lässt: Mut, Courage, Zivilcourage, Selbstverantwortung. Richten wir den Blick auf uns selbst. Der Kapitalismus ist ein Instrument, ein Werkzeug, kein Mythos. Wir können mit ihm machen, was wir wollen. Wenn uns beim Versuch, ein Bild aufzuhängen, der Hammer auf die Füße fällt, war das die Schuld des Hammers? Was kann das Werkzeug dafür, dass wir zwei linke Hände haben? Im Umgang mit dem Kapitalismus aber sind Medienleute, Eliten, Politiker und Bürger sich schnell einig: Wütend pfeffern sie den Hammer in die Ecke und verfluchen ihn. Ein Werkzeug zum Sündenbock zu machen, ist die unausbleibliche Folge aller Ahnungslosigkeit: Irgendjemand muss ja schuld sein. Und ich selbst kann das auf keinen Fall gewesen sein. So schlagen wir tapfer daneben, treffen alles Mögliche, nur nicht den Nagel auf den Kopf.

Ein Hammer ist ein Hammer. Aber den Kapitalismus verstehen – ist das denn möglich? Ist das nicht viel zu kompliziert? Sollen wir alle Experten werden, Banker, Aktien-Gurus, Spezialisten? Nein, wir müssen das so wenig werden wie wir Piloten, Chirurgen oder Busfahrer werden müssen, um von komplexen Systemen zu profitieren. Niemand muss einen Pilotenschein machen, wenn er nach London fliegen möchte. Aber was den Kapitalismus angeht, haben viele Flugangst aus Prinzip. Man könnte auch sagen: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Die Kapitalismus-Allergie der westlichen Intellektuellen hat eine ähnliche Ursache wie die antikapitalistischen Beschwörungen der Politik. Beide fürchten, Macht und Deutungshoheit in einer Welt zu verlieren, in der die Menschen selbstständig auf ihren Beinen stehen.

Aber wir sollten aufhören, dem Kapitalismus magische, übersinnliche Kräfte zuzuschreiben. Ärzte sind keine Wunderheiler, und wir sollten froh darüber sein, dass ihr Können nachvollziehbar ist. Wir können fordern, dass die Prozesse der -Ökonomie verständlicher und verstehbarer werden. Eine Zivilgesellschaft lebt von einem hohen Maß an Zugriff auf Wissen, natürlich auch auf Expertenwissen. Wenn Bürger selbst mehr entscheiden wollen und sollen, dann brauchen sie auch zugänglichere Informationen. Wir verlassen seit Jahren den historischen Korridor der Industriegesellschaft und wenden uns der Ökonomie des Wissens zu. Die wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft hat in allen Bereichen die Industrie als treibende Kraft der Wirtschaft abgelöst. In der Wissensgesellschaft wird die Spezialisierung weiter zunehmen. Damit aber nimmt die Notwendigkeit zu, komplexe Bereiche verständlich und nachvollziehbar zu machen. Die wichtigste Eigenschaft im 21. Jahrhundert besteht darin, detailliertes Wissen und Know-how verständlich anzubieten. Zugänge und Zugriffe sind die Schlüsselbegriffe dieser Zeit.
Vor diesem seit Jahren sich klar abzeichnenden Hintergrund agieren die meisten Betriebswirte und Nationalökonomen in einem einzigartigen Autismus. Je gespannter die Lage rund um das Wirtschaftsverständnis der Bürger wird, desto wurbeliger und merkwürdiger wird die Antwort der ökonomischen Experten darauf. Man lebt in unterschiedlichen Welten. Und das ist ein wesentliches Defizit auf dem Weg in eine emanzipierte Zukunft, in eine Zivilgesellschaft der materiell Mündigen. Ökonomen und Betriebswirte haben kein Grundrecht auf blindes Vertrauen. Vielleicht liegt es am Wettbewerb, dem sich die akademische Elite der Ökonomie im kontinentaleuropäischen Bereich kaum zu stellen hat. Dass viele Wirtschaftswissenschaftler mit dem Gegenstand ihrer Forschung so wenig zu tun haben wollen wie viele Konzernmanager, lässt sich kaum leugnen.

Aber das ist eben nur eine Seite. Selbst keineswegs systemkritische Intellektuelle drehen zügig ab, wenn man ihnen ein Grundverständnis kaufmännischer Angelegenheiten abverlangt. Die einen halten Kapitalismus für eine Bedrohung, die anderen für zu kompliziert und langweilig, andere wiederum haben keine Lust, ihr Geheimwissen mit dem Volk zu teilen. [ … ]

Zivilkapitalismus. Die Essenz

Die offene Gesellschaft steht an ihrem Anfang. Ob sie sich dauerhaft gut entwickeln wird, hängt von der Bereitschaft ihrer Teilnehmer ab, das Werkzeug der Wirtschaft, den Kapitalismus, selbst zu führen – und seine Anwendung nicht anderen zu überlassen. Wie mit der Wirtschaft verhält es sich auch mit der Politik. Das Delegieren von Verantwortung und Entscheidung hat ausgedient. Es ist ein Relikt aus Zeiten, in denen Menschen nicht reif und nicht klug genug waren, um sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Für die Zivilgesellschaft gilt, was John Rawls als Wesensmerkmal der Gesellschaft an sich definierte, nämlich ein »Unternehmen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil« zu sein. Dazu müssen wir den Kapitalismus als Werkzeug anwenden – und die falschen Anklagen gegen ihn fallen lassen. Statt einen Schuldigen für unsere -eigene Unmündigkeit zu suchen, sollten wir lieber darüber nachdenken, wie wir vollständig mündig werden. Bedienen wir uns also unseres Verstandes. Die folgenden zehn Punkte beschreiben den Kern des zivilen Kapitalismus, den die Zivilgesellschaft braucht.

1. Wir sind erwachsen
Der Kapitalismus ist nicht das kleinere Übel und wir sind keine Opfer. Wir sind frei geborene, selbstbewusste Bürger, die in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Wir sind Zivilgesellschafter, Erwachsene der Moderne. Und wir wissen, was wir wollen.

2. Wir sind selbstbestimmt
Zivilgesellschafter bauen auf dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe, der Subsidiarität. Das Ziel der Gesellschaft ist die Entfaltung der persönlichen Talente und Fähigkeiten ihrer Bürger. Das Ziel der Bürger ist Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, die größtmögliche Eigenverantwortung und die Unterstützung aller anderen Bürger bei der Erlangung dieser Ziele.  Dazu braucht man ein Klima ohne Gesinnungsterror und eine offene Debatte, die keine Denk- und Diskursverbote kennt. Wir lassen uns weder sagen, was wir für richtig halten sollen, noch, was nicht. Political correctness ist ein Herrschaftsinstrument unter vielen.

3. Wir ermöglichen Zugänge
Schulen und Bildungseinrichtungen erziehen vor allen Dingen zur Selbstständigkeit, und nicht, wie heute, zum Mitmachen und zur Unterordnung. Es geht darum, Bildung als Universalwerkzeug zu begreifen. Wo immer es geht, soll der persönliche, originäre Nutzen der Bildung für den Einzelnen klar werden. Wir lernen nicht mehr für die Schule, für die Firma, für andere – sondern für uns selbst. Das wichtigste Bildungsziel ist, den Wert des Unterschieds und den Wert der Person zu lehren, deutlich zu machen, wie wichtig Unterschiede und Unterscheidbarkeiten sind. Der Respekt vor Differenz und Vielfalt steht über allem. Bildung zur Selbstständigkeit fördert die Fähigkeiten zur Veränderung. Es ist schlicht Selbstbetrug zu glauben, dass alles im Leben planbar wäre. Üben wir die Fähigkeit, mit Überraschungen umzugehen. An die Stelle von Ohnmacht tritt ein konstruktives Staunen.

4. Zivilkapitalisten gehören sich selbst
Wirtschaft muss barrierefrei sein. Im Zivilkapitalismus stehen alle verfügbaren Mittel und Wege offen, um Eigeninitiative und Selbstständigkeit zu fördern. Unternehmerisches Denken ist nicht abweichendes Verhalten, sondern der Kern einer offenen Gesellschaft, die auf Innovationen, Wissen und positive Veränderungen setzt. Zivilkapitalismus fördert nicht den Besitzstand, er schafft Zugänge, erlaubt Zugriffe und bietet Möglichkeiten, aber er drängt sie niemandem auf. Wo Wissen zur wichtigsten Ressource wird, wird das Recht auf die eigene Kreativität und ihre Ergebnisse zum Grundrecht. Informationen mögen kollektiven Charakter haben, schon Wissen hat diese Einschränkung nicht mehr. Wissen entsteht in der Auseinandersetzung mit einer Person und ihren unverwechselbaren Sichtweisen. Wissen ist ein originäres Produkt. Vollständig persönlich wird es in der Anwendung, denn hier verdichtet es sich zum Original, zum Können, zum Know-how, das jeweils an eine Person gebunden ist. Wissensarbeiter gehen nicht von einer Abhängigkeit in die nächste, also von der einen Firma, dem einen Staat hin zu einem Kollektiv oder einem Schwarm. Jeder kann teilen, aber er muss nicht müssen.

5. Zivilkapitalismus ist eine Graswurzelbewegung
Eine barrierefreie Ökonomie braucht den Einsatz aller Experten und Vermittler, um möglichst viele Menschen zu Zivilkapitalisten zu machen. Zivilkapitalismus ist eine öffentliche Angelegenheit. Er ist nicht die Sache von Menschen in dunklen Anzügen oder Businesskostümen. Zivilkapitalismus legt Wert aufs Teilen und teilt sich mit. Barrierefrei heißt immer auch so klar und verständlich wie möglich. Kapitalismus ist nicht zu kompliziert. Das lernt man an der Geschichte des Personal Computers und des Internets. Beiden Technologien liegen komplexe Strukturen zugrunde, die gezielt von einer elitären Hochtechnologie zu einem massentauglichen Produkt entwickelt wurden.  Der Zivilkapitalismus orientiert sich bei seiner Verbreitung an der frühen Alternativbewegung. Enge Grenzen sind nicht erwünscht. Experimente, Versuche, Diskurse, ein konstruktiver Streit über Ziele sind wichtig. Die offene Gesellschaft lebt von Unterschieden, nicht von Mainstream und Anpassung. Zivilkapitalismus ist eine Graswurzelbewegung, die auf die Ethik und Kraft der Person setzt statt auf die Macht großer Institute. Zivilkapitalismus ist Selbstbewusstsein und Emanzipation.

6. Zivilkapitalismus ist Realwirtschaft
Zivilkapitalisten sind Sozialunternehmer, weil sie sich darüber im Klaren sind, dass ihr ökonomisches Handeln und ihre Innovationen andere Menschen beeinflussen. Der politisch gewollte Gegensatz zwischen Markt und Gemeinwesen ist überholt. Wirtschaft ist kein Selbstzweck, sondern sucht nach der Verbesserung der Lebensbedingungen aller in ihr handelnden Personen. Zivilkapitalismus ist die real existierende Wirtschaft, in der Unternehmer, Menschen mit Zielen, Sinn, Zweck, Träumen und Visionen die Bürokratie des alten Kapitalismus, das Management, ersetzen.
7. Zivilkapitalismus ist Interesse am anderen
Zivilkapitalismus ist kooperativer Kapitalismus. Er verteilt nicht einfach Güter und Dienstleistungen, sondern er respektiert den Sinn des Wortes »Markt« im Ganzen und in seinem Ursprung: Aus dem Verbraucher wird ein Mit-Gestalter und Mit-Unternehmer, ein Zivilgesellschafter, der seine Wünsche und Vorstellungen einbringt. Menschen auf diesen Märkten sind im Wortsinn Geschäfts-Partner. Sie handeln im gegenseitigen Interesse, sie folgen gemeinsamen Zielen, sie unterstützen sich gegenseitig, weil sie etwas voneinander wollen. Dieses Voneinander-Wollen wird kultiviert: Die Frage lautet nicht mehr: Was kann ich Ihnen verkaufen? Sondern: Was kann ich für Sie tun? Nun meinen wir es ernst.

8. Zivilkapitalismus stärkt die Übersichtlichkeit
Wir lernen gerade, mit Komplexität umzugehen, weil wir lernen auszuwählen und zu entscheiden. Die Zivilgesellschaft stärkt das Prinzip der Polis: »Alle Bürger, die politische Entscheidungen treffen, müssen in der Lage sein, sich in einem Raum versammeln zu können.« Wir wollen einander kennenlernen. Kommunen und Regionen stehen über einem Zentralstaat oder supranationalen Gebilden, die sich nach dem Muster der alten Nationalstaaten entwickelt und sich von den Bürgern massiv entfremdet haben. Zivilgesellschaft braucht Nähe und Ferne, das Globale und das Lokale. Verbindend ist das Interesse, das wir aneinander haben.

9. Zivilkapitalisten sind fortschrittlich
Elitäre Antikapitalisten trauern ihren Illusionen nach. Dabei klingen sie so ewiggestrig wie all die Generationen vor ihnen, die »es ja immer schon gewusst haben«. Der wohlfeile Antikapitalismus von heute ist reaktionär. Er wird von Spießern und in besseren Kreisen gepflegt, von Leuten, die eigentlich ihre Ruhe haben wollen, die von den Krisen gestört wird. Dieser Neobiedermeier hat die moralische Lufthoheit in der Politik, in der Kunst und in den Medien. Der Neobiedermeier beabsichtigt nicht, seine Planstellen und die damit verbundenen vermeintlich »wohlerworbenen Rechte« aufzugeben.
Dabei wird die Ausplünderung des Gemeinwesens und künftiger Generationen seit langem billigend in Kauf genommen. Zivilkapitalismus zwingt zu einem nüchternen Blick auf diesen Zustand, auch mit den Widersprüchen, die die Transformation mit sich bringt. Das Leben in Selbstbestimmtheit bringt Zumutungen mit sich, vor allen Dingen jene der Entscheidung.

10. Was zu tun ist
»Was kann man daraus machen?« ist die Grundformel der Zivilgesellschaft – und des Zivilkapitalismus. Es liegt an uns selbst, ob es auf diese Frage eine Antwort gibt – die Politik und die alten Machtstrukturen haben auf jeden Fall auch eine parat. Doch der Preis dafür ist die Verlängerung der Unmündigkeit. Überlassen wir den Kapitalismus nicht den Leuten, die ihn zum Inbegriff des Versagens und der Ungerechtigkeit gemacht haben. Nehmen wir das Werkzeug auf. Beschaffen wir uns Wissen, Strukturen und Methoden zur Selbstständigkeit. Besserung ist nur durch uns selbst zu erwarten, ganz so, wie Leo Tolstoi es sagte: »Damit die Lage der Menschen besser wird, müssen die Menschen selbst besser werden.« Das ist harte Arbeit. Aber es gibt immer noch eine ganze Welt zu gewinnen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch »Zivilkapitalismus. Wir können auch anders«
Pantheonverlag 2013, 224 Seiten, 15,50 Euro

Essay, Fazit 98, (Dezember 2013) – Foto: Wolfgang Schmidt

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