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Die Welt der Vernunft und der Geschichte

| 29. Juni 2017 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 134

Foto: PrivatEin Essay von Marco Gallina. Wir leben in einer geschichtsfeindlichen Zeit. Um ihr Ansehen zu wahren, müssen Historiker die herrschende Ideologie legitimieren.

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Marco Gallina, geboren 1986, studierte in Bonn und Verona italienische Literatur, Politikwissenschaft und Geschichte mit Schwerpunkt auf Diplomatiegeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit (Reichsgeschichte, Italien). Seine Masterarbeit beschäftigte sich mit Machiavelli als Botschafter. Derzeit ist er Doktorand und daneben als Autor und freier Publizist tätig.

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In letzter Zeit werde ich vermehrt von angehenden Abiturienten gefragt, warum man Geschichte studieren sollte. Wenn man nicht unbedingt Lehrer oder Taxifahrer werden wolle, habe so ein Studium doch keinerlei Sinn. Jura sei doch viel lohnenswerter. Ganz abgesehen davon, dass Juristen – so sie nicht zur Elite ihres Jahrgangs gehören – ebenfalls kein einfaches Dasein fristen, ist die Frage natürlich falsch gestellt. Ich werde mich hier nicht weiter über die Berufsaussichten auslassen, die mit einem Geschichtsstudium offen stehen. Zuletzt spielen da weitaus mehr Faktoren eine Rolle als ein Abschluss. Die Mär, nur das Richtige zu studieren, und dann quasi ein Anrecht auf einen sicheren Arbeitsplatz zu haben, mag noch für die 80er Jahre gegolten haben, ist aber im 21. Jahrhundert nichts weiter als eine Urban legend. Und das betrifft schon lange nicht mehr allein die Geisteswissenschaften.

Es existierte mal eine Zeit, in der das Humboldtsche Bildungsideal so geläufig war, dass man bei der Frage nur den Kopf geschüttelt hätte. Geschenkt. Praktikable Verwendung spielt heute eine weitaus größere Rolle als Bildung des Charakters und des Geistes. Damit geht die Verschulung der Universität logischerweise Hand in Hand – und natürlich der Umstand, dass heute jeder quasi studieren muss, nachdem jeder das Abitur erworben hat. Bildung für alle eben, alles andere wäre ja ungerecht – oder? Zeitgeist, könnte der Geschichtsphilosoph kontern. Denn genau da setzt bereits die Lehre aus dem Studium an: das Bewusstsein, dass wir in einer Zeit leben, die geschichtsfeindlich ist, solange sie nicht einer herrschenden Ideologie dient. Historiker waren mal bedeutende Persönlichkeiten im 19. Jahrhundert, angesehen und auch nicht schlecht verdienend. Wieso? Weil sie Stützen der Legitimation waren. Das war zuerst beim Nationalstaat der Fall. Die gesamte deutsche Geschichtsschreibung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts liest sich als Vorspiel zur Gründung des deutschen Nationalstaats von 1871. Die Fragen waren daher durchweg: warum gab es keinen Nationalstaat wie in England, Frankreich oder Spanien? Was waren die Gründe dafür? Und darüber hinaus: wo sehen wir Ansätze, die auf die nationale Einigung abzielen und wiederum Gegensätze, welche diese verhindern? Geschichtsforschung war daher auch immer Geschichtsdeutung. Das mittelalterliche, starke Stauferreich war die Krönung der deutschen Geschichte, das Reich der Frühen Neuzeit dagegen ein »Flickenteppich«, außenpolitisch schwach und Beute fremder Mächte. Beides ist – alle Fakten zusammen genommen – grober Unfug und zugleich nicht ganz unwahr. Aber das ist auch typisch Geschichte: der Historiker versteht (wenn es auch ein paar Jahrhunderte dauern kann), dass er als Mensch determiniert ist, und die Welt nicht in schwarz und weiß unterteilen kann. Daran sind die Historiker des 19. Jahrhunderts im Nationalgedanken gescheitert, auf anderen Gebieten haben sie dagegen brilliert und konnten noch differenzierter denken als manche aktuelle Denkschule. Zur Vereinbarkeit von »Wahrheit«, Fakten, Unwahrheit und Unwissen als Stärke der Geschichtswissenschaft werde ich in einem späteren Beitrag ausführlicher schreiben. Später machten sich andere Ideologien die Geschichte Untertan. Faschistische Historiker in Italien sahen im antiken Rom die Legitimation Italiens, das Mittelmeer erneut zu unterwerfen (»Dir Rom obliegt es, den Erdenkreis zu beherrschen«, wie Vergil so schön sang). In der Sowjetunion lief alles auf die Umwandlung der ökonomischen Verhältnisse und der Entstehung eines neuen Menschen hinaus. Historiker im Dritten Reich entdeckten »rassische« Konzepte. Und seit Fukuyama haben die »Liberalen« (ich setze dies bewusst in Anführungszeichen) plötzlich die Idee, die Geschichte steuere auf eine Demokratisierung der Welt zu.

Seit dem 19. Jahrhundert sind demnach Geschichte und Geschichtswissenschaft immer wieder das Opfer von Ideologen, Welterklärern und jenen, die sich selbst zu legitimieren versuchen. Es existiert kein älteres Werkzeug, um seine Macht abzusichern, als das Alte selbst. Das führt dazu, dass man bei Misserfolg Dinge in die Geschichte hineininterpretiert, um sich die große Erzählung passend zu machen. Kurz: wer sich mit Geschichte kritisch befasst, lernt zuerst die Geschichte der Manipulation, der Propaganda, der Verleumdung, der Hinterlist und der Lüge kennen. Ein kritisches Geschichtsstudium hat das Weltbild mancher Leute daher zutiefst zerrüttet. Es war im wahrsten Sinne eine »Enttäuschung«, heißt, das Ende einer Täuschung und zugleich ein Kummer darüber, dass es vielleicht nichts gibt, was wir mit Sicherheit sagen können. Um es in die Worte von Winfried Schmitz zu packen: »Kann sein, kann aber auch nicht sein.« Es ist aber gerade jener sokratische Gedanke, der so fruchtbar und so wichtig in einer Welt ist, in der alles bereits festgelegt, politisch korrekt, alternativlos, nachhaltig, tolerant, bunt, weltoffen, gender, turbokapitalistisch, solidarisch, hip, frei und öko-bio daherkommt. Ein gutes, verstandenes Geschichtsstudium lehrt in erster Instanz, dass die Menschen immer neue Wege finden, um sich das Leben zur Hölle/zum Paradies zu machen, und das unsere heutige Zeit eben in keiner Hinsicht besser ist, sondern eine Fortsetzung all dessen. Menschen suchen immer nach Erklärungen, und immer glauben sie, den Heiligen Gral gefunden zu haben. Ein bewusstes Geschichtsstudium, bei dem man sich mit Originalquellen befasst, ohne Deutung, sondern nur mit leisem Herantasten und ohne Voreingenommenheit, kann Demut lehren. Demut auch davor zu glauben, dass immer alles so einfach ist, wie wir es vorgekaut bekommen – nicht nur damals, sondern vor allem heute. Der echte Historiker ist ein Ärgernis, weil er eine gründliche Skepsis gegen Ideologien, Medien, Trends, Mode, Zeitgeist, Politik und all das entwickelt, was heute Gang und Gebe ist, eben weil er um die Endlichkeit des Seins und die mörderischen Fehler seines eigenen Geschlechts weiß. Ein Geschichtsstudium bringt daher vielleicht kein Geld, aber es lehrt einen, was Freiheit wirklich bedeutet. Womöglich ist das der Grund, warum heutzutage Historische Seminare kaum noch mit Geld ausgestattet werden.

Die Schattenseiten der absoluten Vernunft

Wir leben in einem Zeitalter, das von den Naturwissenschaften beherrscht wird – trotz anderslautender Urteile, die den geisteswissenschaftlichen Kropf beklagen. Quantität und Einfluss sind zwei unabhängige Dinge. Evolutionen und Revolutionen wurden so gut wie nie von der Mehrheit, sondern von jenen mit Einfluss getragen. Unser Denken ist daher auch extrem naturwissenschaftlich geprägt: ja oder nein, schwarz oder weiß, richtig oder falsch. Das Leben wird zu einer einfachen Schaltsystem von »Entweder oder« degradiert, in dem eindimensionale Antworten reichen. Nun ist aber gerade die Geschichtswissenschaft alles andere als eindimensional (oder: monokausal). Das ist unvermeidlich, da sie sich mit Menschen befasst. Menschen sind irrational, sprunghaft, widersprüchlich, unberechenbar, vielfältig und individuell. Jedwede Definition des Menschen führt daher in die Irre – und es macht die Arbeit um ein vielfaches komplizierter. Beim Menschen existiert prinzipiell nur ein »Licht-an, Licht-aus«-Modus, nämlich in der Folge seiner Geburt und seines Ablebens. Für alles dazwischen existieren so gut wie keine absoluten Gewissheiten. Dieses absolute Wissen um eine Tatsache ist jedoch der naturwissenschaftliche Kern der heute lebenden Menschheit. Ihren Beginn nimmt sie mit René Descartes und den nachfolgenden Aufklärern. »Ich denke, also bin ich«, ist sein weltzerbrechendes Dogma, welches die Menschen ihre Umgebung neu erblicken lässt. Für Descartes lässt sich die Welt nur über den Zweifel erkennen. Mit ihm beginnt ein Zeitalter der Vernunft. So weit, so gut. Descartes Nachfolger treiben diese Erkenntnis jedoch auf einen neuen Höhepunkt, nämlich, dass alles, was nicht vernünftig ist, folgerichtig unvernünftig sein müsse. Dieser Wechsel ist wichtig, denn Descartes hatte zumindest noch eingestanden, dass »im Zweifel der Irrtum« bliebe. Besoffen von dem Gedanken, dass nun die Vernunft die neue Herrin der Welt sei, schicken sich aber die neuen Lehrer der Vernunft an, die Welt bis ins Detail erklären zu müssen. Sie nennen sich selbst »Aufklärer«, um Licht ins Dunkel zu bringen. Die Aufklärung wird heute in der Schule und in den Medien als die Wende in der europäischen Geschichte verehrt. Das wird schon daran deutlich, dass die EU diese Werte als die ihren ausgibt. Von »Aufklärung« und »Menschenrechten« wird da gefaselt, die zuletzt in die glorreiche französische Revolution münden. »Menschenrechte«, die allerdings rein gar nichts gegolten haben, wenn man nicht derselben Meinung anhing wie die Vernunftgläubigen – die Royalisten der Bretagne, die Kleriker unter der Guillotine, die Partisanen in Spanien und überhaupt alle Menschen, welche die Segnungen der Vernunft nicht begrüßten, wurden teils grausam verfolgt und getötet. Es existieren Fälle, in denen die Ritter der Vernunft widerspenstige Dorfgemeinschaften in Boote setzten und auf dem Meer ersaufen ließen, da man die Guillotine für zu langsam empfand. Wir merken uns: Meinungsfreiheit ist das erste Gut, welches der Vernunft im Namen der »Menschenrechte« geopfert wird. Wie komme ich nun von Descartes, Erkenntnis und Vernunft zu den Gräueltaten der Revolution? Sie stehen eben nicht zusammenhanglos beisammen, denn der Grundgedanken des Absoluten steckte ebenso im wissenschaftlichen Anspruch der aufkommenden Naturwissenschaften wie im Gedankengut eben jener Aufklärer. Die Begeisterung, der damalige »Zeitgeist«, für alles Vernünftige, Wissenschaftliche, Progressive und die Suche nach dem absolut Richtigen ist nur eine Seite der Medaille. Die Kehrseite: wenn die menschliche Vernunft das höchste Gut ist, dann macht sie konsequent alles richtig, und jeder, der dagegen ist, muss prinzipiell verbohrt oder moralisch verkommen sein. Fassen wir zusammen: die Aufklärer, die in Schulen und Universitäten hochgejubelt werden, prägen uns bis heute. Sie stimmten das Hohelied der Vernunft an, dass alles beweisbar sei; alles mit Experimenten verifiziert werden könnte; alles mit menschlicher Vernunft durchdrungen und gedacht werden könne; dass alles, was nicht vernünftig sei, abgeschafft werden müsse. Streng genommen hört sich das überhaupt nicht vernünftig an, sondern radikal verblendet. Persönlich ist es für mich gleich, ob jemand an Allah oder an die Vernunft glaubt, wenn er deswegen denkt, die Wahrheit gepachtet zu haben, äußert sich das langfristig in Massenmord. Leider setzt sich erst langsam der Gedanke durch, dass unsere Vernunft extrem begrenzt ist, was allein schon die Ansammlung historischer Beispiele unterstreichen sollte. Alle, die jetzt mit »aber die Kirche« ankommen, sei gesagt: allein in der Bretagne (Aufstand der Vendée) massakrierten die Revolutionäre zwischen 1793 und 1800 dutzendmal mehr Menschen als die Inquisition seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts. Dennoch spielen in unserem Geschichtsverständnis die böse Kirche und das reaktionäre Papsttum (inklusive Unterdrückung der Frau, Hexenverfolgung und angebliche wissenschaftliche Repression) eine größere Rolle als die Verbrechen der Revolution, als deren geistige Nachfahren sich unsere heutigen politischen Systeme verstehen. Kurz: die vernünftigen Männer und Frauen, die sich als »Wissen«-schaftler im wahrsten Sinne des Wortes gerierten, betrieben Menschenexperimente. Experimente, die unter marxscher Prägung im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung fanden, wobei auch einige verquere italienische und deutsche Sozialisten dem roten Brei braune Zutaten zumischten. Nicht der Schlaf der Vernunft gebar Ungeheuer, sondern ihre Überbewertung.

Ich sage es ganz offen: was um uns herum passiert und geschieht, ist viel zu groß und wunderbar, als dass der stecknadelgroße Verstand des Menschen es jemals durchdringen wird. Wenn jemand von sich behauptet, dass er die Welt durchschaut hat, dann bitteschön: ich werde es nicht, kann es nicht, und halte jeden für einen Aufschneider, der es mir zu versprechen versucht. In manchen Angelegenheiten ziehe ich den Glauben der Vernunft vor; nicht, weil ich einem reaktionär-religiösen Kult um einen Mann aus Nazareth anhänge, sondern in der Gewissheit, dass unser schöner blauer Planet nur ein Staubkorn am Sandstrand des Universums ist. Denker, die behaupten, es gäbe »kein richtiges Leben im falschen« halte ich entgegen: ein Leben mag falsch oder richtig sein, das ändert aber nichts an der Richtigkeit der Welt. Gleich, wie ich es mir hinbiege. Die Sonne wird morgen auch ohne Adornos Vernunft aufgehen, so, wie Gott sich auch nicht um den Tod Nietzsches kümmert – alles streng metaphysisch gesprochen, natürlich. Statt das Wunder und die Herrlichkeit des Lebens anzunehmen, und ihm jeden Tag mit Freude zu begegnen – reden wir uns diese Welt kaputt, mit einem defekten Verstand, der uns mehr von der Welt verdirbt, als dass er uns dafür echte Erkenntnis gibt. Jene, die das Paradies erschaffen wollen, führen uns dagegen geradewegs in die Hölle, um ein Wort von Karl Popper zu bemühen. Diese scheinwissenschaftliche Mentalität, die eben auf alles eine Antwort weiß, und die Wissenschaft als höchstes Gut ansieht, übersieht völlig, welcher Hybris man anheimgefallen ist. Die Welt der Naturwissenschaftler ist die ihre, aber wer denkt, mit Systemen, Experimente und dergleichen dieselben Maße an die Menschheit und die ganze Welt legen zu können, der maßt sich an, Gott zu spielen. Das ist zwar konsequent, wenn die Vernunft die Göttin ist, aber Lehren aus dem Menschsein sind damit zum Scheitern verurteilt. Deswegen spielen auch gar nicht die Naturwissenschaftler die Rolle des Hasardeurs – die ich hier in gar keiner Weise anklagen will, sondern eher als Opfer, denn als Täter ansehe! – sondern jene, die denken, deren Ideen auf die gesamte menschliche Erfahrungswelt anzulegen. Genau das geschieht jedoch seit ca. 300 Jahren, und hat Blüten hervorgebracht, die meistens als »-ismen« daherkommen. Mittlerweile wird jeder Unfug irgendwie »wissenschaftlich« belegt (und ich meine nicht nur »Galileo Mystery«), weil es so quasi immer als »wahr« aufgefasst wird. Wissenschaftlich = gut. Dass es sich dabei um einen Mythos handelt, und die größten Wissenschaftler fast durchweg eher die Grenzen des Wissens, als dessen Größe betonen, wird fast immer ausgeklammert. Dass die Evolutionstheorie mit einem quasi-religiösen Eifer gepredigt wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Heilige Wissenschaft! An dieser Stelle kommen wir zum immanenten Problem, das zuletzt mit der Religion kollidiert. Richard Dawkins (»Der Gotteswahn«) wurde einst von einer Christin gefragt: »Was ist, wenn Sie falsch liegen?« Statt konkret zu antworten, schlug Dawkins die Dame mit Gegenfragen, nach dem Motto: wenn sie nicht in den USA, sondern in Indien geboren würde, dann wäre sie mit Sicherheit Hindu; hätte sie in Dänemark zur Zeit der Wikinger gelebt, hätte sie die dortigen Gottheiten verehrt. Kurz: vielleicht irren Sie sich, weil Religion nur mit der Umwelt zu tun hat? Und genau hier, wo das Publikum johlte, hätte man einhalten müssen. Der Vernunftgläubige kennt nicht zwei Lösungen. Es gibt nur eine. Es gibt immer richtig und falsch. Wenn man Christ ist, müssen alle anderen falsch liegen. Allein die Existenz von Hindus und Christen schließt aufgrund ihrer Unvereinbarkeit logischerweise die »Richtigkeit« des Konzepts Religion aus. Schwarz kann nicht weiß sein. Ja oder nein. Was Dawkins und viele seiner Vernunftbrüder übersehen: außerhalb der Naturwissenschaft muss nicht nur eine Antwort existieren. Sonst hätte es keinerlei Sinn, dass Franziskus sich mit allen Religionsführern der Welt trifft. Letztendlich hat man eine andere Meinung und einen anderen Glauben, das heißt aber nicht, dass nur, weil man selbst richtig liegt, alles andere falsch sein muss. Noch einmal: nur, weil die Vernunft etwas als richtig erkennt, muss nicht alles, was außerhalb davon liegt, konsequent falsch sein. Damit ist die Religion in ihrem Prinzip um einiges humaner, menschlicher, als die kalte Vernunft, die nur richtig und falsch unterscheiden will und alles, was ihr nicht zugänglich ist, als unvernünftig (heißt: wertlos) abtut. [1]

Diese vernünftig-naturwissenschaftliche Kultur der Erkenntnis hat damit einen entscheidenden Makel: sie ist monokausal. Monokausalität bezeichnet eine Erklärung, die eben nur auf einer einzigen Grundlage fußt. Allein aus unserem Alltag wissen wir aber, dass viele Situationen sich aus einer unglaublichen Anzahl von Handlungen ergeben, für die selten nur eine einzige Quelle verantwortlich ist. Hier setzen Historiker gerne an: für Napoleons Aufstieg sind weitaus mehr Faktoren verantwortlich, als nur der Ausbruch der Revolution. Sonst hätte jeder Artilleriekommandant Kaiser werden können – das war aber eben nur Napoleon möglich! Die Gründe sind vielfältig. Wer sich daher mit Geschichte befasst, muss sich von gewöhnlichem Vernunftdenken befreien und über den Tellerrand schauen, weil eines seiner Themen – der Mensch – völlig irrational ist. Und das ist tatsächlich kein Mangel, sondern ein Teil jener unerklärlichen Großartigkeit, welches das Geheimnis der Welt ausmacht.

Die Hybris unserer Tage: wir leben in erleuchteten Zeiten!

Um Missverständnissen vorzubeugen: hier sollen nicht die Naturwissenschaften, Systeme oder die Vernunft angegriffen werden, sondern die Vernunft als absolute Quelle jedweder Erkenntnis. Nicht die Vernunft oder die Aufklärung, sondern der Ganzheitsanspruch derselben, die Welt bis ins hinterletzte Detail zu erklären, sind jenes gefährliche Gift, das einem den Geist vernebeln kann. Schwarz-Weiß-Denken mag für Ideologen erstrebenswert und logisch (!) sein, da jedwede Ideologie sich in zwingenden Kausalketten verfängt. Solche Leute sollten sich aber tunlichst von der Geschichte fernhalten. Zwangsläufig muss alles, was als »totale« Antwort dient, totalitär werden. Wenig verwunderlich, dass es daher lange Zeit eine bedeutende marxistische Geschichtswissenschaft gab. Allerdings kam – oh Wunder – natürlich genau das raus, wonach man suchte. Die dauernde Betonung von »schwarz und weiß« hat tiefere Bedeutung. Thomas Nipperdey – der sicherlich zu den bedeutendsten Historikern des 20. Jahrhunderts zählen darf – hat einmal treffend gesagt: »Die Grundfarben der Geschichte sind nicht Schwarz und Weiß, ihr Grundmuster nicht der Kontrast eines Schachbretts; die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen.« Nachzulesen im dritten Band seiner Deutschen Geschichte, und eine der wenigen Kernaussagen über dieses Fach, die ich vorbehaltslos unterschreiben würde. In eine ähnliche Richtung geht Nipperdeys Vorstoß bei der Frage, ob Geschichte objektiv sein könne, die er in einem eigenen Essay behandelt. Klarer und prägnanter hat dies nur Konrad Vössing auf den Punkt gebracht: »Kann der Historiker objektiv sein? Soll der Historiker objektiv sein? Wäre das nicht kalt? Sollte man nicht besser versuchen, gerecht zu sein?« Der Satz ist eine Perle im Meer der Klarheit! Was aber ist nun diese »Gerechtigkeit« des Historikers, die gerade aus dem Mund eines Althistorikers wie Vössing gleich nach Aristoteles und Marc Aurel zu rufen scheint? Ich glaube, sie ist den stoischen Idealen gar nicht einmal so fern – wenn man den Stoizismus nicht als kalte Pflichtlehre versteht, sondern als Philosophie, der es um Besserung des eigenen Charakters und die ruhige Betrachtung der Gegebenheiten geht. Von dieser Gerechtigkeit spricht auch Nipperdey. Er betrachtet den behandelten Zeitraum »aus sich selbst« heraus, statt aus der Perspektive unserer aktuellen Zeit. Das deutsche Kaiserreich (1871-1918) ist bei ihm eben keine Vorerzählung der Weimarer Republik und des Dritten Reiches, ebenso wenig, wie es die »Vollendung der deutschen Nationalstaatsidee« für die deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts war. Nipperdey betrachtet die damalige Zeit aus ihren eigenen Gegebenheiten und aus den Augen der damaligen Akteure. Ähnlich handelt Christopher Clark, dessen Buch »Die Schlafwandler« über den Ausbruch des 1. Weltkrieges genau demselben Konzept folgt. Bei Clark erleben wir Geschichte, als spielte sie sich aktuell vor unseren Augen ab. Um aber die Akteure und ihre Handlungen – die aufgrund von Zeitgeist und Mentalität vielen fremd erscheinen – zu begreifen, muss man ihre Motive, ihre Hintergründe, ihre Vorstellungen kennen, bevor man sie nachvollziehen und verstehen kann. Das bedeutet nicht, dass man sie zwangsläufig gutheißen muss, und es bedeutet natürlich auch nicht, diese als unabänderlich anzunehmen; ein gerechtes Urteil über eine Person und eine Handlung kann aber nur im Rahmen der damaligen Welt gefällt werden. Das liest sich zuerst schlüssig und allgemein. In der Tat stoßen sich aber die meisten Leute gerade daran. Nehmen wir einen der populärsten Gerichtsfälle der Geschichte, der immer wieder in unserer »Vernunftzeit« ausgegraben wird: den Fall Galileo Galilei. Der Pisaner hatte nicht nur die Jupitermonde entdeckt, sondern auch die wissenschaftliche Theorie verteidigt, dass sich die Erde um die Sonne drehe. Dieses heliozentrische Weltbild hatte Kopernikus bereits vertreten; was aber weit weniger Menschen wissen: schon die Griechen kannten die »heliozentrische«, also sonnenzentrierte These.

Und genau hier sollte man ansetzen: warum hat sich das sonnenzentrierte System, demnach die Erde und andere Planeten sich um die Sonne drehten, nicht in der Antike durchgesetzt? Warum haben die alten Griechen der geozentrischen Idee, nämlich, dass sich alle Planeten und die Sonne um die Erde drehten, den Vorzug gegeben? Die Antwort: das Phänomen der Gravitation ließ sich nicht anders erklären. Aristoteles postulierte, dass die Erde in der Mitte des Universums liegen müsse, und alles anziehe. Die Sonne und die anderen Planeten beständen dagegen aus einer Quintessenz, einem fünften, unbekannten Element, das sie auf Kreisbahnen halte. Diese Theorie war so selbsterklärend, dass sie zum wissenschaftlichen Standard gehörte. Die These, die Erde befinde sich im Zentrum des Universums, ist daher auch weniger eine biblische oder gar katholische Lehrmeinung, sondern sie wurde über Jahrhunderte tradiert und von der Kirche aufgenommen. Aristoteles war der Pflichtstoff an allen Universitäten Europas, und die Autorität seines Namens allein erstickte jeden Zweifel. Folgerichtig war die Frage des Inquisitors an Galilei in seinem Verhör: »Wenn sich die Erde um die Sonne dreht, wie verhält es sich mit der Schwerkraft?« Unser Pisaner hatte darauf schlicht und ergreifend keine Antwort. Er wusste sie einfach nicht. Kurz: er konnte seine Theorie nicht verifizieren, weil sie ungeahnte Probleme auf einem anderen Feld erzeugte. Deshalb hatte Galilei auch keine andere Möglichkeit, als seine Theorie zu widerrufen. Nach dem damaligen Wissensstand hatte die Katholische Kirche absolut Recht damit, dass Galileis Theorie absurd war – ebenso wie seine irrige Behauptung, die Gezeiten hingen mit der kreisenden Erde zusammen! [2]

Dennoch wird Galileo nicht nur heute, sondern insbesondere von Ideologen der »Vernunft«-Schule als Heiliger verehrt. Für sie zählt eben nicht das Argument der potentiellen Falsifizierbarkeit und auch nicht, dass heutzutage kein Wissenschaftler unter solchen Gesichtspunkten anerkannt werden würde, sondern die reine Ausrichtung auf das Ende. Klar, wir wissen heute, dass die Erde um die Sonne kreist – aber dieses Wissen vorauszusetzen, und sogar nach den damaligen Begebenheiten aus unserer Perspektive zu urteilen, ist ungerecht. Wer diesen Weg geht, der muss gleichfalls die Pestopfer wegen mangelnder Penicillinbestände kritisieren und die mangelnde Demokratie im frühmittelalterlichen Frankenreich beklagen. Paradoxerweise geschieht das aber heute fast durchweg, wenn alles, was früher Stand der Dinge war, per se als rückständig angesehen wird. Jeder, der den eigenen Wert einer Epoche unterstreicht, kommt dann schnell in den Ruch des Ewiggestrigen, des Reaktionärs, des Kerls, der meint »früher sei alles besser« gewesen. Letztere Gedankengänge kann man jedoch nur haben, wenn man eben auf ein »Ziel« schaut, wenn man glaubt, dass sich Geschichte »entwickelt«, irgendwohin »strebt« oder sogar in etwas »mündet«. Schon diese zielgeleiteten Vorstellungen sind zutiefst konstruktivistisch und immanent überheblich – keiner weiß, wohin sich die Geschichte entwickelt. Einen permanenten Fortschritt gibt es aber – entgegen dem Vernunftglauben – nicht. Wer daran tatsächlich glaubt, soll Rom und Italien unter Trajan und dieselbe Ecke in der Langobardenzeit vergleichen. Denselben Knick gab es zwischen 1500 und 1700. Selbst in der neuesten Geschichte sollte den Leuten bewusst sein, dass es den Menschen 1970 in der Sowjetunion erheblich besser ging als Anfang der 90er Jahre. Und wir sehen bereits jetzt Anzeichen, dass unser schönes, friedliches Europa der letzten 60 Jahre auch nicht ewig halten wird. Kommen wir daher an dieser Stelle, wo sich die vernünftige Hybris und die Lehren der Geschichte treffen, auf Galileo zurück. Wir sehen, dass die Wissenschaft nicht unfehlbar ist, und sich konsequenterweise immer weiterentwickeln muss; dass diese eben nicht nach Wahrheit, sondern nach Fakten sucht. Wahrheit ist letztgültig; Wissenschaft ist es nicht (was positiv ist, denn das entspricht ihrem Wesen). Wer beides gleichsetzt, landet im Verband der Vernunftjünger, die ihre Opfer in Gulags steckten, vergasten und Menschenexperimente durchzogen – auf der Suche eines irgendwie gearteten »Neuen Menschen«, den es zu schaffen galt. Eben, weil man die Welt nicht nahm, wie sie war, sondern sie so haben wollte, wie sie sein sollte. Nichts ist schrecklicher als der Mensch in seinem Wahn. Und selbst hier muss der Historiker nicht mit Verachtung, nicht mit Moral daherkommen, sondern auch diese Vorgänge als Kinder ihrer Zeit nachvollziehen und im besten Fall begreifen, was in diesen Menschen vorging, eben weil wir keine Überwesen sind, sondern im Zweifelsfall mehr mit diesen dämonisierten Monstern gemein haben, als uns recht sein mag.

Wozu überhaupt Geschichte?

Die Vernunft bleibt ein wichtiger Teil der Geschichtswissenschaft (vielleicht sogar der maßgebliche), aber gerade die Erfahrungen in der Betrachtung alter Texte lehrt, wo diese an ihre Grenzen stößt. Um Geschichte zu verstehen, bedarf es daher zugleich Empathie, um die Handlung von Menschen nachzuempfinden – auch, wenn nicht jedem Historiker dieses Einfühlungsvermögen gelingt. »Gerechtigkeit« ist daher nicht das Urteil eines obersten Richters, sondern salomonische Weisheit. Einfühlungsvermögen psychologischer Art ist nicht zu verwechseln mit emotionaler Gefühlsduselei oder Romantik, sondern hat die Aufgabe, herauszufinden, was der Antrieb eines Menschen sein kann. Historiker sind nicht selten Biographen. Niemand hat das besser erreicht als Niccolò Machiavelli. In seiner Florentinischen Geschichte urteilt er hart, aber gerecht, da er versucht, die Handlungsweisen jeder seiner Protagonisten nachzuempfinden, zu veranschaulichen und zu bewerten. Wer einmal die Beschreibung des Ciompi-Aufstands – die Revolte der niederen Wollweber in Florenz – gegen die mächtigen Zünfte und Ratsherrn liest, erlebt dort das scharfe Psychogramm einer ganzen Stadt, man mag meinen: einer ganzen Generation. Als Geschichtsschreiber bedient sich Machiavelli (im Gegensatz zum Historiker) erfundener Reden, die in radikaler Nüchternheit den Kampf um Macht und Interessen aufzeigen, ja, sogar die Antriebe und Zwänge des Menschen selbst. Hier trifft wissenschaftliche Vernunft auf psychologische Menschenkenntnis. Und dennoch: selbst Machiavelli kann nicht alle Facetten menschlichen Handelns und der Geschichte fassen. Wir stoßen immer an die Grenzen. Anders als viele andere Wissenschaften können wir allein deshalb nichts mit letzter Gewissheit sagen, weil wir niemals alle Perspektiven fassen können: alle Räume, alle Zeiten, alle Menschen. Noch schlimmer: selbst wenn wir es könnten, es wäre schier unmöglich, so Geschichte zu schreiben und zu beurteilen. Schon Christopher Clark stieß bei seinen Recherchen zum Ausbruch des 1. Weltkriegs an die Grenzen des menschenmöglichen. Nun ist der Beginn des 20. Jahrhundert vergleichsweise gut dokumentiert – und dennoch wissen wir, dass Archivbestände mit unwiederbringlichen Informationen, die in der Theorie unser ganzes Bild dieser Zeit umkehren könnten, aus politischen Motiven vernichtet wurden. Gehen wir einen großen Schritt zurück. Von allem antiken Schriftgut ist nur ein Prozent erhalten. Noch einmal: ein Prozent. Von 100 geschriebenen Büchern ist statistisch nur eines tradiert worden. Dennoch haben wir ein geschlossenes Bild von der Antike – zumindest glauben wir das. Denn tatsächlich haben wir nur ein »Bild«, einen Ausschnitt, eine Vorstellung. Wir können niemals mit Gewissheit sagen: so war es. Wir können uns nur an die Wahrheit annähern. Das ist die von mir bereits erwähnte Demut, die vielen anderen Bereichen der Forschung heute abhandengekommen zu sein scheint, wenn sie alles erklären will.

Viele machen daher prinzipiell den Geisteswissenschaften den Vorwurf, sie seien keine Wissenschaften. Die Gegenfrage muss daher lauten: ist denn die Philosophie eine Wissenschaft? Wer das verneint, der muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass jedwede Wissenschaft nichts weiter als Philosophie ist, die sich im Laufe der Zeit nur spezialisiert und perfektioniert hat. In der Antike existierte kaum ein Unterschied zwischen Mathematikern und Historikern, sie waren beides »Philosophen«. Auch die Universalgelehrten der Renaissance kannten da kaum einen Unterschied – selbst Goethe bemühte sich noch darum, neben seinem literarischen Schaffen eine »Farbenlehre« zu begründen. Wer dagegen bejaht, dass die Philosophie eine Wissenschaft sei, oder besser: die Mutter aller Wissenschaften, der wird einsehen, dass die Geschichte eine ihrer schönsten Töchter ist. Philosophie ist prinzipiell undogmatisch, das trennt sie von der Theologie. Weder kennt der Historiker Regelsätze, noch benutzt er Formelsammlungen; auch, wenn sich einige bemühen, ihre »Methoden« als mathematisches Äquivalent zu vermarkten. Auch das ist Zeitgeist, wenn an die Geschichte der Anspruch gestellt wird, naturwissenschaftlicher zu sein. Das hat Thukydides am Beginn seines Peloponnesischen Krieges weit besser hinbekommen, wo er schildert, wie er bei seiner Arbeit vorgegangen ist. Das alles zeigt uns, dass wir niemals unsere Vergangenheit vollständig »rekonstruieren« können, sondern mehrheitlich »konstruieren«. Das spricht uns aber im Gegenzug nicht frei davon, dennoch nach den Fakten, vielleicht sogar der »Wahrheit« zu suchen; nicht in dem Sinne, dass wir glauben, sie auch zu finden oder zu erkennen, sondern als Antrieb. Das stinkt nach Idealismus; in Wirklichkeit ist es – zumindest für mich persönlich – Pflicht. Ein guter Handwerker gibt sich auch nicht mit dem zweitbesten Produkt zufrieden: erst das macht ihn zum Meister. Wir suchen nach menschenmöglicher Perfektion, das bedeutet nicht, dass wir aber an das Ideal herankommen. Spätestens an dieser Stelle kommt man um die Sinnesfrage nicht herum. Mathematisch ausgedrückt: Was ist die Funktion von Geschichte? In der Schule begegnet man Aussagen wie »damit man weiß, wie’s früher war«; [3] »um daraus zu lernen«; oder – mein Favorit – »damit wir nicht vergessen«. Letzteres riecht bereits nach indoktrinierter Staatsmoral eines sanktionierten Geschichtsbildes, das George Orwell nicht besser hätte umschreiben können. Denn wie wir wissen, war Ozeanien mit Eurasien immer im Krieg.

Meine Ansicht? Die Frage ist mal wieder falsch gestellt. Genauso gut kann ich fragen: Was ist die Funktion von Kultur? Was ist die Funktion von Religion? Was ist die Funktion dieser Frage? Warum also beschäftigen wir uns mit Geschichte, wenn es ein sinnloses Unterfangen zu sein scheint, da wir wohl niemals letzte Gewissheit erreichen? Diese Frage muss in letzter Instanz jeder für sich selbst beantworten – das ist meine ganz persönliche Meinung, die sicherlich nicht die führende Lehrmeinung darstellt, die bereits dafür vorgefertigte Schablonen entwickelt hat. Das Studium der Geschichte kann uns erst darauf eine Antwort geben. Einige Details – die Warnung vor der Überheblichkeit der Vernunft, die Warnung vor Manipulation, das Verständnis für unsere eigene Begrenztheit – klangen hier immer wieder an. Kann man also tatsächlich aus der Geschichte lernen? Auch das muss ich – mit Verweis auf die großen Probleme der Erkenntnisgewinnung – folgerichtig bezweifeln. Man sollte vielleicht fragen: ist es unmöglich aus der Geschichte zu lernen? Das wiederum verneine ich. Die Mehrzahl der Geschichtsschreiber – dazu einige sehr bedeutende wie Polybios und Machiavelli – haben ihr Werk deswegen niedergeschriebene, damit nachmalige Generationen sich an den Handlungsweisen ihrer Vorfahren orientieren können. Allerdings haben sich nie die Leute darum gekümmert, an die es gerichtet war. Um Wolfgang Will zu zitieren: »Kann man aus der Geschichte lernen? Ja, man kann. Aber es benötigt viel Fleiß, Disziplin und Intelligenz. Was der Grund ist, warum Politiker nie aus der Geschichte lernen.« Wieder mal ein Althistoriker. Irgendwie haben die die besten Sprüche.

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Fußnoten

[1] Natürlich kann man auch den Spieß erneut umdrehen: weil Dawkins in einer westlichen, vernunftgläubigen Gesellschaft aufgewachsen ist, hat er keine andere Wahl, als an die Vernunft zu glauben und ergo Gott auszuschließen. Aber auf dieses von Dawkins angefeuerte, schopenhauersche Niveau der Eristischen Dialektik muss man ja nicht gleich einsteigen.

[2] Erst Isaac Newtons Schwerkrafttheorie sollte diesen Gordischen Knoten lösen – und nebenbei fand der Engländer auch heraus, dass der Mond die Gezeiten erzeugte, und nicht etwa die Erde, die auf ihrer Kreisbahn hin- und herschwappte. Allerdings hat auch Newton sich auf bestimmten Feldern geirrt, was erst Albert Einstein – trotz heftiger Widerstände – beweisen konnte. Aber das ist eine völlig andere Geschichte.

[3] Spätestens hier frage ich mich, ob viele Menschen nicht ein völlig falsches Geschichtsverständnis haben. Geschichte handelt weniger davon, wie es früher war, sondern davon, warum es heute so ist.

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Der vorliegende Text ist auf der Webseite des Autors, dem »Löwenblog«, erschienen. Wir danken für die freundliche Genehmigung, ihn abdrucken zu dürfen. Das Löwenblog finden Sie unter marcogallina.de

Essay, Fazit 134 (Juli 2017), Foto: Privat

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