Der Faktor Wertschätzung
Carola Payer | 6. Juni 2024 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 203, Serie »Erfolg braucht Führung«
Carola Payer zur Frage, wann sich Organisationsmitglieder wertvoll und vor allem wertgeschätzt fühlen.
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Bei Mitarbeiterbefragungen wird immer wieder der Wunsch nach mehr Wertschätzung artikuliert. Wertschätzende Führungszugänge werden in Workshops und Coachings diskutiert, reflektiert und entwickelt. Es scheint aktuell einen richtigen Wertschätzungs-Hype zu geben. Wertschätzung hat viele Dimensionen. Sagt jemand: »Ich will mehr Wertschätzung!« kann das vieles bedeuten. Es ist ein Begriff, der sich in der Haltung und dem Verhalten von Menschen ausdrückt und viel mit den individuellen Bedürfnissen jedes Einzelnen zu tun hat. Wertschätzung wird manchmal noch von Führungskräften in den Soft-Skills-Topf geworfen und mit dem Argument, nicht »immer lieb zu allen sein« zu wollen, zu wenig reflektiert. Organisationen haben aber in Zeiten der Differenzierung im Wettbewerb um Mitarbeiter keine Chance mehr, dieser Auseinandersetzung zu entkommen. Eine wertschätzende Unternehmenskultur steht bei der Arbeitgeberauswahl zum Teil vor der Aufgabe. Junge Ärzte und Pflegepersonal entscheiden ihre Fachdisziplin zum Beispiel danach, auf welchen Instituten oder Abteilungen ein wertschätzender Umgang untereinander erlebt wurde.
Wertschätzung als Grundbedürfnis
Psychologisch betrachtet ist Wertschätzung ein Grundbedürfnis. Wir wollen im Kontakt mit anderen Menschen eine Hebung unseres Selbstwertgefühls und Anerkennung erfahren. Dies kann das Wohlbefinden und die mentale Gesundheit positiv beeinflussen. Menschen, die regelmäßig Wertschätzung erfahren, sind oft glücklicher und resilienter gegenüber Stress und Herausforderungen. Wertschätzende Gesten fördern ein gesundes und unterstützendes soziales Netzwerk und tragen zur emotionalen Stabilität und Zufriedenheit bei. Wird der Selbstwert bestätigt, erreicht man automatisch auch die Befriedigung der weiteren Grundbedürfnisse, wie Zugehörigkeit, Sicherheit und Lusterhöhung. Wird mein Wert erkannt, dann gehöre ich dazu, dann bin ich hier sicher. Zu beachten ist im organisatorischen Kontext, dass ein zentrales, neurobiologisch begründetes Motiv für die Bereitschaft des Menschen zu arbeiten der Wunsch nach direkter oder indirekter Anerkennung ist.
Würdigung der individuellen Einzigartigkeit
Wertschätzung heißt, die Bedeutung und den Wert, der durch die Einzigartigkeit des Individuums entsteht, anzuerkennen. Jeder Mensch bringt Potenziale mit, die eine Beitragsfähigkeit darstellen. Diese können in verschiedenen Rollen zur Wirkung kommen. Kann der Auftrag in der Organisation nicht erfüllt werden, schmälert das nicht den Wert der Person. Die Kritik sollte sich auf die Reflexion des fehlenden Beitrages zur Erfüllung der Aufgabe konzentrieren. Das heißt, die Person mit ihren Potenzialen muss nicht in Frage gestellt werden. Es geht um das Verhalten oder die Beiträge in bestimmten Situationen, die nicht wirkungsvoll genug erbracht wurden. Gute Feedbackgeber können in kritischen Situationen Menschen vermitteln, dass diese nicht »falsch, schuld, zu blöd« für etwas sind, sondern konzentrieren sich auf die zu erfüllenden Handlungen und Beiträge. Der Mensch bleibt einzigartig, auch wenn mir sein Verhalten manchmal eigenartig vorkommt oder der Leistungsbeitrag fehlt. Wenn das so ist, kann das kritische Feedback die Person unterstützen, die Erwartungen das nächste Mal besser zu erfüllen. Wertschätzung bedeutet auch Menschen mit kritischem Feedback ehrlich und offen die Chance zu geben, an ihren Schwachpunkten, fehlenden Kompetenzen oder an wirksameren Verhaltensoptionen zu arbeiten.
Raum geben für individuelle Sichtweisen
Beobachtet man den Austausch in sozialen Medien, scheint seit der Corona-Zeit die Wertschätzung für verschiedene Meinungen und Sichtweisen den Bach hinuntergegangen zu sein. Offene Diskussionen sind eine Seltenheit. Die Haltung ist oft: »Meine Meinung ist ein Fakt oder eine wissenschaftlich belegte Aussage, deine Meinung ist nur eine Sichtweise oder generell falsch.« Wertschätzende Haltung in Diskussionen bedeutet, Sichtweisen neugierig zu hinterfragen, aktiv zuzuhören, den anderen verstehen zu wollen und nicht dem Gegenüber die eigene Überzeugung gleich um die Ohren zu hauen. Wertschätzung bedeutet, Dialoge zu führen und nicht ein Schlagabtausch von Monologen. Wertschätzung im Austausch von Sichtweisen braucht das Bewusstsein, dass jeder Mensch aufgrund seines Wesens, seiner Biografie, seines Umfelds, seiner Zugehörigkeit zu Gruppen, seiner Erfahrungen, seiner Wahrnehmungstendenzen die Welt ganz individuell wahrnimmt. Sichtweisen austauschen und nicht um die richtige Sichtweise kämpfen ist ein wertschätzender Akt. Wertschätzung heißt nicht nur Lob und Anerkennung, sondern gerade auch Arbeits- oder Lebenspartnern Feedback zu geben, wenn wir Dissonanzen haben. Alles andere ist unfair. Ein beliebtes Spiel ist die Kommunikation über Dritte, wenn der Mut zum Ansprechen nicht da ist. Menschen haben immer wieder blinde Flecken und nicht immer das Bewusstsein, wo sie für andere anstrengend oder unkonstruktiv in der Kooperation werden. Offene Kommunikation im Geben und Annehmen von kritischem Feedback kann wesentlich zur persönlichen Entwicklung und zur besseren Kooperation beitragen.
Emotionsmanagement
Die Fähigkeit, auf Menschen offen zuzugehen und ihnen offen zu begegnen, hängt stark damit zusammen, wie gut wir in der Lage sind, die Emotionen, die Situationen oder Menschen in uns auslösen, zu managen. Schnell kann der Emotionsfilter unsere Haltung negativ beeinflussen und uns zu geringschätzenden Haltungen und Handlungen einladen. Insbesondere Ärger und Aggressionen bei Abweichungen von Erwartungen lassen uns zum uncharmanten und oft auch verletzenden und abwertenden Gegenüber werden. Wertschätzung kann individuell und kulturell variieren und ist oft tief vom Wesen der Person, den sozialen Normen und Traditionen einer Gesellschaft, eines Umfeldes, der Familie, von Prägungen oder Konditionierungen beeinflusst. Wertschätzend empfunden werden können Geschenke (im Unternehmen z. B. Gehalt, Boni, Goodies), Helfen und Unterstützen, Nähe und Aufmerksamkeit, Berücksichtigen von Bedürfnissen, Weltbildern, Werten, Prinzipien und Beteiligung in Erarbeitungs- oder Entscheidungsprozessen. Unsicherheit und geringer Selbstwert kann dazu führen, dass Menschen ein sehr hohes Maß an Wertschätzung einfordern. In der Arbeitswelt ist Wertschätzung ein Schlüssel zu Motivation und Produktivität. Mitarbeiter, die sich wertgeschätzt fühlen, sind tendenziell engagierter und loyaler. Wertschätzung kann durch verschiedene Handlungen und Einstellungen zum Ausdruck gebracht werden, zum Beispiel durch kleine, alltägliche Gesten der Freundlichkeit. Ein einfaches Danke, ein Lächeln oder ein anerkennendes Wort können große Wirkung haben. Mitarbeiter und Teammitglieder schätzen aktives Zuhören. Aufmerksamkeit schenken und die Meinung des anderen ernst nehmen, gibt das Gefühl des Wahrgenommenwerdens. Wertschätzung der Erfolge und Bemühungen um Klarheit, Transparenz, Höflichkeit und Respekt in der Interaktion schafft Bindung. Gemeinsame Aktivitäten und Teambuilding-Maßnahmen können helfen, Wertschätzung und Zusammenhalt zu stärken. Mitarbeiter schätzen auch Weiterbildungsprogramme, die fachliche, soziale und emotionale Kompetenzen fördern. Achtsamkeit im Alltag und das Fördern von Empathie kann helfen, sich der Bedeutung von Wertschätzung bewusster zu werden. Führungskräfte sollten eine Vorbildfunktion übernehmen und Wertschätzung aktiv vorleben und diese fördern. Jene, die ein gesundes Selbstwertgefühl haben, sind besser in der Lage, Wertschätzung zu zeigen. Menschen, die einen geringen Selbstwert haben, entwickeln oft eine Gier nach Anerkennung und definieren sich nur über diese. Daher ist es wichtig, auch die Selbstwahrnehmung und das Selbstbewusstsein von Organisationsmitgliedern zu fördern.
Was Wertschätzung verhindert
In unserer schnelllebigen Gesellschaft nehmen sich viele Menschen nicht die Zeit, innezuhalten und Wertschätzung zu zeigen. Der Druck, ständig produktiv zu sein, Zeitmangel und Hektik können dazu führen, dass zwischenmenschliche Beziehungen vernachlässigt werden und dies zu Entfremdung führt. Individualismus und Wettbewerb führen zu einer starken Fokussierung auf Erfolge und Konkurrenzdenken. Das kann zur Folge haben, dass die Leistungen und Beiträge anderer weniger gewürdigt werden. Ein Mangel an Empathie kann ebenfalls hinderlich sein, denn Wertschätzung erfordert die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Perspektiven zu verstehen. Diese Fähigkeiten sind jedoch nicht immer ausreichend entwickelt. In vielen sozialen und beruflichen Kontexten mangelt es auch an Vorbildern, die Wertschätzung authentisch vorleben und dadurch eine Kultur des Respekts und der Anerkennung fördern. Wertschätzung ist eine wesentliche Grundlage für positive und konstruktive Beziehungen in allen Lebensbereichen. In unsicheren und von Veränderungen betroffenen Zeiten schafft sie ein Klima des Vertrauens und der Zusammenarbeit und trägt wesentlich zum individuellen und kollektiven Wohlbefinden und zur organisationalen Resilienz bei.
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Dr. Carola Payer betreibt in Graz die »Payer und Partner Coaching Company«. Sie ist Businesscoach, Unternehmensberaterin und Autorin. payerundpartner.at
Fazit 203 (Juni 2024), Fazitserie »Erfolg braucht Führung« (Teil 70), Foto: Marija Kanizaj
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